Oralmedizin kompakt
Laut einer schriftlichen Befragung des „Ärzteblatts“ richtet von hessischen Hausärzten nur jeder zweite seine Behandlung nach Leitlinien aus. Fast 60 Prozent sehen zudem Leitlinien als Beschränkung ihrer Therapiefreiheit, 44 Prozent finden sie zu kompliziert, also schwierig in die Praxis umzusetzen. Wie bereits 2014 in der dzw berichtet, stimmt dies recht gut mit der Zahn- und Oralmedizin überein (Studie aus den USA). Weitere häufig genannte Kritikpunkte sind mangelnde Objektivität, weil Industrie oder Kostenträger Einfluss nähmen.
Sind also Leitlinien bei dieser schlechten Akzeptanz überhaupt relevant, und welche Entwicklungen gibt es, um diese zu verbessern?
Für eilige Leser
• Leitlinien werden häufig kritisch bewertet, abgelehnt oder ignoriert.
• Kritikpunkte sind mangelnde Aussagekraft und Praxisbezogenheit, weiterhin interessengeleitete Einflussnahme von außen (Kostenträger, Industrie).
• Neue Entwicklungen berücksichtigen vermehrt Patientenfaktoren und Interessenkonflikte beteiligter Experten (AWMF-Leitlinien-Standard).
• Ein abgestuftes Portfolio enthält zunehmend praxisorientierte Empfehlungen für den Chairside-Gebrauch.
• Über praxisbasierte Forschungsnetzwerke könnten Wissenschaft und Praxis integriert werden.
• Leitlinien und evidenzbasierte Medizin sind wissensgestützte Werkzeuge, die das ärztliche Handeln im Patienteninteresse verbessern können.
• Als Ziele gelten Qualitätssicherung und kontinuierliches Lernen.
• Individuelle Patientenfaktoren, ärztliche Erfahrung und ärztliche Intuition sind unverändert von großer Bedeutung.
Zunächst zur Nutzenfrage: Ein Patient hat am Montagmorgen nach zwei Wochen noch immer eine unklare Veränderung der Mundschleimhaut am Zungenrand. Haben Zuwarten oder therapeutische Maßnahmen wie die Glättung des Prothesenrandes keinen Effekt, soll der Befund laut aktueller Leitlinie histologisch auf ein Plattenepithelkarzinom untersucht werden [1].
Zweites Beispiel: Bei Patienten mit (vermutetem) Bruxismus fehlen Daten zu geeigneten Materialien für Seitenzahnkronen. Entsprechend können laut aktueller Leitlinie Gold- oder monolithische Zirkonoxidkronen angezeigt sein [2]. Ohne sorgfältige und aufwendige Studienauswertung sind solche differenzierten Aussagen nicht möglich.
Strengere Vorgaben für Leitlinien
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) forderte im Jahr 2017, in neuen Leitlinien neben klinischen Messgrößen den Patientennutzen stärker zu berücksichtigen. Weiterhin sollen Fremdinteressen transparenter dargelegt werden. In der neuen Leitlinie zur Behandlung von Parodontitis der Stadien I–III wurde der zweite Punkt durch Ausschluss potenziell befangener Experten bei den Abstimmungen bereits gut berücksichtigt. Empfehlungen zu Einzelmaßnahmen wurden auch mit dem zu erwartenden Patientennutzen und dem Erstattungssystem abgeglichen.
Nicht ganz unbegründet gelten Leitlinien in ihrer aktuellen Struktur als zu wenig praxisgerecht [3]. Bis zu den ersten Schlussfolgerungen müssen viele Seiten gelesen oder übersprungen werden, häufig fehlen Tabellen oder andere Übersichten mit den wichtigsten Schlussfolgerungen. Das gilt auch für Kurzversionen, die ähnlich aufgebaut sind wie die Langversionen und im klinischen Alltag nicht immer mit vertretbarem Zeitaufwand hinzugezogen werden können.
Neue Formate für mehr Praxisnutzen
Da diese Probleme in der Wissenschafts-Community wahrgenommen wurden, stehen seit einiger Zeit weitere Formate zur Verfügung, zum Beispiel „Kompaktempfehlungen“ der DGZMK oder „Praxisletter“ zu fokussierten klinischen Fragen (beides: „Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift“). Praxisleitfäden des Bundesverbands der implantologisch tätigen Zahnärzte in Europa (BDIZ EDI) basieren ebenfalls auf einer (vereinfachten) strukturierten Literatursichtung. Sie sind übersichtlicher aufgebaut als AWMF-Leitlinien und werden laut Verband im Gutachterwesen genutzt.
Auch industriegesteuerte Organisationen publizieren gern Stellungnahmen, die zum Teil von anerkannten Fachleuten unterzeichnet werden. Sie beruhen jedoch in der Regel nicht auf neutraler Bewertung der Studienlage und sind entsprechend mit Vorsicht zu genießen. Andere Konsensempfehlungen, die von wissenschaftlichen Stiftungen auf der Basis systematischer Reviews erarbeitet werden, sind dagegen absolut relevant (zum Beispiel ITI).
Praxisbasierte Netzwerke
Die begrenzte Praxisrelevanz vieler Empfehlungen beruht auch darauf, dass diese aus universitär durchgeführten Studien abgeleitet werden. Die Gegebenheiten des Praxisalltags sind daher häufig zu wenig berücksichtigt. In den USA existiert deshalb bereits seit den 1970er-Jahren eine Tradition systematischer praxisbasierter Forschung [4]. Das öffentlich geförderte National Dental Practice-Based Research Network hat eine Reihe eigener Studien publiziert und gibt auf der Seite der American Dental Association (ADA) Empfehlungen, die über ein Menü auf die individuelle Patientensituation abstimmbar sind.
Auch in Deutschland gibt es an der Universität Freiburg ein Netzwerk, das in mehreren Studien den hohen Nutzen nicht-chirurgischer Parodontaltherapie in deutschen Praxen bestätigen konnte [5]. Die AG Keramik bietet Praxen ein Bewertungssystem für keramische Restaurationen, das seit 30 Jahren umfangreiches Datenmaterial liefert. Der US-amerikanische Hochschullehrer Gregg H. Gilbert äußerte die Vision, dass in Zukunft alle Zahnmediziner Forschung routinemäßig in ihren praktischen Alltag integrieren werden [6]. Das wäre einerseits für die Therapiequalität, aber auch für die Versorgungsforschung und damit für Kostenträger von großem Interesse. Nicht zu unterschätzen ist hier das Konfliktpotenzial in Bezug auf ein unabhängiges Arzt-Patienten-Verhältnis.
Fazit
Wissenschaft ist immer nur der neueste Stand des Irrtums (Dr. med. Eckart von Hirschhausen). Deshalb sind Leitlinien nur ein Werkzeug für bessere Medizin, aber sicher eines mit großem Potenzial. Die spannendste Perspektive bieten nach Ansicht des Autors praxisbasierte Forschungsnetzwerke. Werden die oben genannten Punkte berücksichtigt, könnten forschungsbasierte Empfehlungen zu einem unentbehrlichen Werkzeug für die tägliche Arbeit werden.
Dr. Jan H. Koch, Freising
Hinweis: Beiträge in der Rubrik „Oralmedizin kompakt“ können nicht die klinische Einschätzung des Lesers ersetzen. Sie sollen lediglich – auf der Basis aktueller Literatur und/oder von Expertenempfehlungen – die eigenverantwortliche Entscheidungsfindung unterstützen.
Internet-Links für datenbasierte Oralmedizin:
Leitlinien der DGZMK und ihrer Fachgesellschaften
DGZMK: Wissenschaftliche Mitteilungen
DGZMK: Kompaktempfehlungen
AWMF: Leitlinien-Suche
ADA Clinical Practice Guidelines and Dental Evidence (mit Individualisierungsfunktion, USA)
AG Keramik, Rubrik Wissenschaft
PubMed (weltweite Datenbank, USA)
Livivo (weltweite Datenbank, Deutschland, mit zusätzlichen Quellen)
Lesen Sie dazu auch den Kommentar „Medizin ohne Wissenschaft ist Mittelalter“.
Literatur
[1] DGMKG. Leitlinie S2k; Diagnostik und Management von Vorläuferläsionen des oralen Plattenepithelkarzinoms in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Registernummer 007-092. Stand: 01.09.2019; gültig bis 31.08.2024.
[2] DG Pro, DGZMK. S3-Leitlinie (Langfassung): Vollkeramische Kronen und Brücken. AWMF-Registernummer: 083-012; Stand: März 2021; Gültig bis: Februar 2026.
[3] Chenot R, Schmidt J, Jordan AR. Informationsbedürfnisse und Stellenwert von Leitlinien im Praxisalltag: Eine qualitative Studie. Dtsch Zahnärztl Z 2017;72:390-397.
[4] Gilbert GH, Williams OD, Korelitz JJ, Fellows JL, Gordan VV, Makhija SK, et al. Purpose, structure, and function of the United States National Dental Practice-Based Research Network. J Dent 2013;41:1051-1059.
[5] Peikert S, Mittelhamm F, Vach K, Frisch E, Hellwig E, Ratka-Krüger P, et al. Praxisbasiertes Forschungsnetzwerk in Freiburg. Welche Ergebnisse bringt die Parodontaltherapie in Zahnarztpraxen? zm 2020;110:50-53.
[6] Gilbert GH. Addressing knowledge gaps. The Journal of the American Dental Association 2021;152:258-259.