Antwort von Prof. Dr. med. dent. Lothar Pröbster auf den Meinungsbeitrag „Brauchen wir noch eine Approbationsordnung für Zahnmedizin?“ von Prof. Dr. Dr. Ralf Radlanski
So sehr es zu verstehen ist, dass die Zahnmedizin sich nicht hinreichend gewürdigt sieht, sei es vor dem Hintergrund der politischen Abkoppelung der Gebührenordnung von der Inflation oder der völligen Missachtung unseres Fachs in der Corona-Krise, und dass deswegen Bestrebungen unternommen werden, das Fach Zahnmedizin aufzuwerten, bin ich der Meinung, dass wir keinen Facharzt für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde brauchen, der auf einem Humanmedizinstudium basiert.
Zunächst bin ich dieser Meinung aus persönlicher, egoistischer Sicht: Ich wäre kein Zahnarzt, hätte ich dafür Medizin studieren müssen. Als Abiturient habe ich mich nicht geeignet gefühlt, Arzt zu werden, egal ob Internist, Chirurg, Ophtalmologe oder was auch immer. Nach meiner Tätigkeit als Zahnarzthelfer im Wehrdienst wusste ich aber, dass die Zahnmedizin für mich passt. Ich denke, dass ich, ohne Medizin studiert zu haben, kein schlechter Zahnarzt bin, der seine Patienten passabel zahnmedizinisch versorgt.
„Die Zahnheilkunde ist in Deutschland gut aufgestellt.“
Bei einer Diskussion über Studiengänge oder deren Abschaffung sollte die gesellschaftliche Frage geklärt werden, was das jeweilige Fach für die Gesellschaft leistet oder leisten soll. Ich denke, dass die Zahnmedizin in Deutschland das recht ordentlich macht. Natürlich kann man sich im Wolkenkuckucksheim vieles wünschen, aber wir müssen die vorhandenen Ressourcen verantwortungsvoll und zweckmäßig nützen. Ich gönne Herrn Radlanski den Luxus seines Doppelstudiums, nur, nicht jeder hat dafür die finanziellen Möglichkeiten. Einer der großen Vorteile des Zahnmedizinstudiums ist doch, dass unmittelbar nach dem Staatsexamen die Absolventen zahnmedizinisch tätig werden können und damit der Gesellschaft dienen (natürlich ist Fort- und Weiterbildung lebenslang nötig). Ein Medizinstudium mit anschließender Facharztausbildung ZMK verbraucht unnötig Ressourcen bei zweifelhaftem gesamtgesellschaftlichem Nutzen. Statt fünf Jahren Studium wären es nach Herrn Radlanskis Idee sechs Jahre Studium plus drei Jahre Facharztausbildung ZMK, also neun (!) Jahre, bis man zahnmedizinisch tätig werden darf. Die KZV verlangt dann noch zwei Jahre Vorbereitungszeit für die Niederlassung. Und wer Oralchirurg oder Kieferorthopäde werden will, darf noch mal vier Jahre drauflegen und ist dann nach 13 Jahren Ausbildung so weit. Ich vermute, die Verantwortlichen in Österreich haben ähnliche Überlegungen angestellt, als sie 2006 das Zahnmedizinstudium eingeführt haben.
Folgt man Herrn Radlanskis Logik weiter, dann müsste jeder Mediziner unbedingt doch auch noch Psychologie studieren, um mit den Patienten adäquat umgehen zu können.
Für die Ausübung der Zahnheilkunde benötigt man kein dreimonatiges Krankenpflegepraktikum (wenn so etwas gesellschaftlich gewünscht wird, dann bitte als freiwilliger oder verpflichtender Dienst) und keine Famulaturen (die bis dato nicht in der Zahnheilkunde absolviert werden dürfen). Eine Vollausbildung in Anästhesiologie, Arbeits- und Sozialmedizin, Gynäkologie, Geburtshilfe, Hämatologie, Kinderheilkunde, Nephrologie, Neurologie, Neurochirurgie, Nuklearmedizin, Onkologie, Ophtalmologie, Orthopädie, Pneumologie, Psychiatrie, Rechtsmedizin, Strahlentherapie, Venerologie, Viszeralchirugie und Virologie nützt der Ausübung der Zahnheilkunde nicht besonders viel. Monatelanger Blutabnahmedienst im Praktischen Jahr in der Inneren und der Chirurgie bringt natürlich die Sicherheit, bei einem Notfall einen Zugang legen zu können. Für das Wahlfach gibt es keine Plätze in der Zahnmedizin, in der MKG-Chirurgie sind sie sehr begrenzt. De facto wäre das PJ ein verlorenes Jahr für die Aspiranten der Zahnmedizin.
So schön ein humboldtianisches Studium generale der Medizin für jeden in der Medizin Tätigen wäre, zielführend und ressourcenadäquat wäre es nicht. Als Patient würde ich zu Prof. Radlanski mit einer kieferorthopädischen Fragestellung gehen, aber nicht mit einer allgemeinmedizinischen oder allgemeinzahnmedizinischen. Da suche ich mir dann doch den Fachkollegen, dessen Fach sein Tagesgeschäft ist. Die Fachzahnärzte für Kieferorthopädie in Hessen nehmen interessanterweise nicht am zahnärztlichen Notfallvertretungsdienst teil. Fachzahnärzte für Kieferorthopädie mit fünf Jahren Studium der Zahnmedizin und einem allgemeinzahnärztlichen Jahr sind offenbar nicht in der Lage, den Notdienst zu bedienen, aber Zahnärzte sollen im Medizinstudium und Examen ihre Zeit auf die oben genannten Fächer verwenden, mit denen sie nie wieder zu tun haben werden? Die Vorstellung von Herrn Radlanski, Fachzahnärzte für ZMK würden dann „komplett als Arzt handeln … können“ erscheint mir doch ziemlich absurd, da sie so gut wie nie allgemeinärztlich tätig gewesen sein werden. Nur das, was man ständig macht, beherrscht man. So wie bestimmte Operationen nur von bestimmten Operateuren in bestimmten Zentren durchgeführt werden dürfen, käme ich nicht auf die Idee, plötzlich kieferorthopädisch zu behandeln, nur weil eines meiner Prüfungsfächer KfO war.
Notwendig ist aus meiner Sicht eine bessere, relevante, auf die Zahnmedizin bezogene Ausbildung in den Nebenfächern. Das finge schon in der Vorklinik an, dass dort verwertbares, vernetztes Wissen in Biologie, Biochemie, Physiologie, Chemie und Physik gelehrt wird und nicht von gelangweilten Dozenten ein ödes Programm abgespult wird, das keinerlei Bezug zur Zahnmedizin hat. Leider ist auch die naturwissenschaftliche Grundausbildung der Gymnasien in vielen Fällen katastrophal, sodass eigentlich ein Vorstudium notwendig wäre. Da ändert aber auch ein Medizinstudium nichts daran.
In den medizinischen Fächern müssten die fachbezogenen, wichtigen Dinge vermittelt und vor allem trainiert werden. Ich kann mich an kein medizinisches Fach in meinem klinischen Studium mehr erinnern, in dem uns engagierte Dozenten die für uns wichtigen Dinge beigebracht hätten. Ein Beispiel: Die für mich relevanten pharmakologischen Therapieschemata habe ich nicht in den pharmakologischen Vorlesungen erfahren, sondern in diversen Fortbildungen nach dem Examen. Was wir im Studium bräuchten, wären praktische Übungen, Algorithmen und Demonstrationen, wie man zum Beispiel Veränderungen der Haut und Schleimhaut erkennt, wie man Risikopatienten identifiziert, was wir bei unserer zahnärztlichen Tätigkeit berücksichtigen müssen, wenn Allgemeinerkrankungen vorliegen, was bei welcher Medikation zu beachten ist. Die Dozenten der Medizin müssten sich halt einmal die Mühe machen, ihre Lehre auf die speziellen Bedürfnisse der Zahnmedizin abzustimmen.
Es tut mir leid, aber ich kann nicht erkennen, dass ich mit einem vorangegangenen Medizinstudium mit den von Herrn Radlanski angeführten Beispielen (Haut, MIH, Karies Pulpa, Parodontitis, Prothesenunverträglichkeit, Dyskinesien) als Zahnarzt besser umgegangen wäre. Das habe ich entweder im Zahnmedizinstudium gelernt oder in speziellen Fortbildungen.
Wahrscheinlich ist mein Horizont als inferiorer Zahnarzt zu begrenzt, aber man möge mir erklären, was ich als prospektiver Zahnmediziner davon habe, wenn ich mich für das zweite Staatsexamen auf Fragen zur Erkennung einer hypertrophen Osteoarthropathie vom Typ der Pierre-Marie-Bamberger-Krankheit vorbereiten muss. Oder sollte ein Zahnarzt wissen, dass bei einem Prostatakarzinom Gleason 9 mit multilokulären Lymphknotenmetastasen im Retroperitonealraum eine Therapie mit GnRH-Analoga und Abirateron indiziert ist? Das sind Fragen aus den letzten medizinischen Staatsexamina. Im Staatsexamen 2019, dem sogenannten Prostata-Examen, waren allein 19 Fragen aus der Urologie. Da sollen die Zahnmedizinstudenten lieber Parodontologie und deren Verbindung zur Medizin lernen.
Natürlich hat sich das Fach Zahnmedizin historisch zu dem entwickelt, was es heute ist. Früher gab es auch den Lehrberuf zum Dentisten. Den Dentisten gibt es aber seit 1952 nicht mehr, das sind immerhin 68 Jahre, und heute die Zahnärztinnen und Zahnärzte mit den Dentisten von früher gleichzusetzen („Dentist oder Mediziner“) ist anmaßend, despektierlich und unkollegial.
Auch der Vergleich mit der Augenheilkunde hinkt gewaltig, ca. 15.200 Zahnmedizinstudenten stehen knapp 600 Assistenten in der Facharztausbildung Augenheilkunde gegenüber.
Die Zahnheilkunde ist in Deutschland gut aufgestellt, sowohl in der Versorgung wie in der Ausbildung. Das zeigen die Mundgesundheitsstudien des IDZ. Eine Abschaffung des Studiengangs Zahnmedizin ist fachlich nicht geboten und volkswirtschaftlich wie sozialpolitisch unsinnig. Verbesserungen sind immer möglich und notwendig, das Fach muss selbstverständlich weiterentwickelt werden, aber da ist die Politik eher der Bremser, Stichwort GOZ 2012 versus HOZ der Zahnärzteschaft. Mit einer möglichen Geringschätzung durch die „echte“ Medizin kann ich leben, der Internist mit Zahnschmerzen kommt trotzdem zu mir. Aber auch der „große“ Chirurg schaut auf den Dermatologen herunter, so what? Die Geringschätzung durch die Politik ärgert mich kolossal, ich weiß aber, dass wir trotzdem „systemrelevant“ sind. Wir müssen das nur deutlich kommunizieren und unser Fach selbstbewusst und kompetent vertreten.
Prof. Dr. med. dent. Lothar Pröbster, Wiesbaden