Anzeige

„Fangt an, von oraler Gesundheit zu sprechen“

Prof. Dr. Iain Chapple

Prof. Dr. Iain Chapple hielt einen eindrucksvollen Vortrag über den Superorganismus Mensch.

Was wäre der Mensch ohne Bakterien? Wahrscheinlich nichts. Der Mensch ist nämlich ein Superorganismus, ein Holobiont, der im Verhältnis mehr Bakterien aufweist als menschliche Zellen – genauer: auf jede menschliche Zelle kommen zwei Bakterien. Über den „Holobiont Mensch und das biologische Gleichgewicht“ sprach Prof. Dr. Iain Chapple. Er ist Dekan der für seine moderne zahnmedizinische Ausbildung bekannten University of Birmingham und eine Koryphäe auf dem Gebiet der Parodontologie.

Die Grundthese des Konzepts: Menschliche Zellen, die Wirtszellen, leben in einer Symbiose mit ihren Bakterien. Das Gleichgewicht von Zellen und Bakterien hält uns gesund. Wenn ein Ungleichgewicht, eine Dysbiose, entsteht, beginnen die Probleme. Bezogen auf die Mundhygiene bedeutet das: Wenn wir Plaquebakterien nicht regelmäßig entfernen, erlauben wir ihnen, sich zu vermehren. Es kommt zu einer Dysbiose im Biofilm. Das führt zu einer Immunreaktion auf die schädlichen Bakterien und letztlich zu einer Schädigung des Gewebes. In Bezug auf Parodontitis ist es also wichtig, den gesundheitsfördernden Biofilm herzustellen, um die guten Bakterien wieder anzusiedeln.

Reise durch die Forschungsgeschichte der Parodontologie

Chapple nahm die Zuhörer zunächst mit auf eine Reise durch die Forschungsgeschichte der Parodontologie mit ihren Pionieren, von den ersten Mikrobiologen über die Immunologen bis zur Moderne. Die ersten Untersuchungen von Bakterien wurden bereits im 17. Jahrhundert vorgenommen. Der niederländische Naturforscher Antoni van Leeuwenhoek entdeckte unter dem Lichtmikroskop Bakterien aus seiner dentalen Plaque.

Moderne Mikrobiologie begann laut Chappel in den 1960er-Jahren mit der Gingivitis-Studie von Harald Löe und Kollegen. Die Forscher nutzten die besten „Versuchskaninchen“, die es gab: ihre Studenten, die sich über bestimmte Zeiträume nicht die Zähne putzten. Die klinisch gesunden Probanden zeigten nach 21 Tagen ohne Zahnpflege Entzündungsanzeichen, die nach einer Plaqueentfernung schnell wieder verschwanden. Die Forscher fanden heraus, dass die Plaqueentwicklung individuell unterschiedlich ist. Manche Studenten entwickelten viel, andere wenig Plaque. Die non-spezifische Plaquehypothese, die besagt, dass nicht die Art, sondern die Menge an Plaque ausschlaggebend für die Entwicklung einer Entzündung ist, war aus der Taufe gehoben. Später zeigte eine weitere Studie, dass sich mehr Plaque an entzündeten Stellen bildet, was darauf schließen lässt, dass Gingivitis Plaquebildung begünstigt. In den 1970er-Jahren entdeckte Max. A. Listgarten unter dem Elektronenmikroskop, dass Bakterien miteinander in Symbiose leben.

Die spezifische Plaquehypothese besagt, dass es nicht auf die Plaquemenge, also die Quantität ankommt, sondern auf die Qualität. Die Erfindung der anaeroben Kammer läutete die „Era of anaerobic Microbiology“ ein, in der viele neue Bakterien entdeckt wurden. Um die Bakterien in oraler Plaque zu untersuchen und zu klassifizieren, wurde die Checkerboard-Methode verwendet. Diese erlaubt es, viele Proben zu analysieren. Ende der 1990er-Jahre identifizierte Sigmund Socransky sechs häufig zusammen vorkommende Bakterienkomplexe und kennzeichnete sie als gelb, blau, violett, grün, orange und rot. In der Gruppe der als gelb gekennzeichneten Bakterien befinden sich die „guten“ Organismen. Die rote Gruppe umfasst die Krankheitserreger P. gingivalis, T. forsythia und T. denticola.

Es ist davon auszugehen, dass es nicht nur auf die Anzahl und Art der Keime ankommt, sondern auch auf die Umgebung der Bakterien. Philip D. Marsh postulierte in seiner „Ecological Plaque Hypothesis“, dass Krankheit das Ergebnis eines Ungleichgewichts in der gesamten Mikroflora aufgrund von ökologischem Stress ist, was zu einer Anreicherung einiger oraler Krankheitserreger führt. Vor allem die als orange klassifizierten Bakterien (P. intermedia, P. micra und F. nucleatum) reichern sich an. Bakterien kommunizieren über chemische Vorgänge miteinander und transferieren genetisches Material, das Resistenzen verursachen kann. Bakterien bilden also Gesellschaften. Floyd Dewhirst untersuchte die Vielfalt der oralen Keime, des oralen Mikrobioms.

Heute befinden wir uns laut Chapple in der „Genomic Era“. Die genetische Sequenz von Bakterien wurde klassifiziert. Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen, Interessenten finden weitere Informationen in der Human Oral Microbiom Database (www.homd.org).

 

Chapple_Jepsen

Prof. Dr. Iain Chapple (links) mit Prof. Dr. Dr. Søren Jepsen    

Neben der Klassifikation stellt sich die Frage, welche Funktionen verschiedene Bakterien übernehmen. Wie kann das Gleichgewicht der Bakterien kontrolliert werden? Wie reagiert das Immunsystem auf die verschiedenen Keime? Dies untersucht die Funktionelle Mikrobiologie.

Greg Seymour nahm das Gingivitismodell von Löe noch einmal unter die Lupe. Er fand heraus, dass sich auch bei oral gesunden Menschen Neutrophile nachweisen lassen, also spezialisierte Immunzellen im Gewebe, die das Gleichgewicht kontrollieren. Wenn sich schädliche Keime vermehren, dominieren im frühen Stadium der Läsion die Lymphozyten und es lassen sich erste Plasmazellen entdecken. In der fortgeschrittenen Läsion befinden sich dann 50 Prozent Plasmazellen. Die Balance der Lyphozytenpopulation verrät uns, ob die Krankheit aktiv ist oder nicht. Befinden sich also Lymphozyten im gingivalen Gewebe, ist die Läsion stabil. Findet man Plasmazellen, liegt wahrscheinlich eine aktive Krankheit vor.

Wenn der Körper überreagiert

Die Wandlung von Symbiose zu Dysbiose ist ein Prozess. Klinisch gesunde Menschen verfügen über einen gesundheitsförderlichen oralen Biofilm, der Körper lebt also in Harmonie mit den Bakterien. Wird der Biofilm nicht regelmäßig entfernt, irritiert er die Epithelzellen, die wiederum Alarmsignale ins Bindegewebe senden und somit die Immunantwort mobilisieren. Diese Mobilisierung führt zu einer Entzündung, der Gingivitis. Wenn der Biofilm entfernt wird, kann die Gingivitis vollständig ausheilen. Manche Menschen weisen jedoch ein erhöhtes Risiko für eine Entzündung auf, reagieren also mit einer (zu) starken Immunantwort auf die Bakterien. Das hat eine Zerstörung des parodontalen Gewebes zur Folge. Die parodontale Infektion ist somit eine Überreaktion des Immunsystems auf die Bakterien. Das heißt, die Keime des oralen Mikrobioms leben nicht nur symbiotisch im Biofilm miteinander, sondern auch mit der Immunantwort. Kommt es zu einer Dysbiose, ist nicht nur der Biofilm im Ungleichgewicht, auch die Balance zwischen Biofilm und Immunantwort ist gestört.

Der Referent schloss seinen Vortrag mit einem Appell: „Hört auf, von Zahngesundheit zu reden und fangt an, von oraler Gesundheit zu sprechen.“