Der Einladung zum zweiten internationalen Kongress der Allianz zur Erforschung und Behandlung der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation („AMIT“ = Alliance of Molar Incisor Hypomineralization Investigation and Treatment) Mitte November 2024 in Berlin folgten rund 300 Teilnehmer aus mehr als 40 Ländern. International anerkannte MIH-Experten präsentierten den aktuellen Forschungsstand bezüglich Ätiologie und Epidemiologie sowie zu Therapieansätzen für die tägliche Praxis.
Kongresspräsident Prof. Dr. Norbert Krämer zog zu Beginn Bilanz: Seit dem ersten AMIT-Kongress 2022 in München sei die Zahl der Publikationen zur MIH gestiegen – allein 620 Arbeiten für 2023 und 2024 sind in Pubmed abrufbar. Allerdings handelt es sich bei den Arbeiten vorwiegend um Reviews, weniger um Originalstudien. Krämer appellierte an die Forscher: „We need more data“.
Die Keynote Lecture von Dr. Nick A. Lygidakis (Athen) zum Auftakt des Hauptkongresses skizzierte den bisherigen Stand zu Epidemiologie, Ätiologie und Therapie der MIH und ermöglichte die Einordnung neuer Studienergebnisse, die von internationalen Experten im Verlauf des dreitägigen Hauptkongresses vorgestellt wurden. Für das Kongressprogramm zeichneten die Präsidenten Prof. Dr. Norbert Krämer und Prof. Dr. Roland Frankenberger verantwortlich.
Epidemiologie: weltweit unterschiedliche Methodiken genutzt
Lygidakis bezog sich hinsichtlich der globalen Prävalenz von MIH auf ein Review von Sun et al. (2017), das diese mit etwa 15 Prozent angibt [1]. Ein aktuelles Review von Kühnisch und Fresen bestätigt diese Zahl, mit Ausreißern nach unten (Afrika: 11 Prozent) und nach oben (Nordamerika: 26 Prozent) [2]. Aktuelle Zahlen für Deutschland liegen nach einer unlängst veröffentlichen repräsentativen Erhebung der Universitäten München und Gießen (in Zusammenarbeit mit der LAGZ) bei 17,5 Prozent für bayerische Schulkinder [3].
Ein standardisiertes Vorgehen epidemiologischer Erhebungen bezüglich Gruppengröße, Alter der Teilnehmer, Untersuchungsprotokoll und Diagnosekriterien wurde auf dem ersten AMIT-Kongress gefordert, habe sich aber noch nicht durchgesetzt, wie Prof. Dr. Jan Kühnisch in einem Gespräch am Rande des Kongresses feststellte. Praxis sei vielmehr die Orientierung an den Standards der WHO für kariesepidemiologische Studien und die Nutzung etablierter Diagnostikstandards. Hier haben sich insbesondere die Kriterien der European Academy of Paediatric Dentistry (EAPD) bewährt. Erschwert wird die Situation dadurch, dass weltweit unterschiedliche Methodiken genutzt werden (siehe auch Interview mit Prof. Dr. Kühnisch).
EAPD-Definition und -Diagnostik der Molaren-Inzisiven- Hypomineralisation
Definition MIH: Ein bis alle vier 6-Jahr-Molaren (6JM) haben eine Schmelzhypomineralisation, wobei auch bleibende Frontzähne und die zweiten Milchmolaren betroffen sein können. Mindestens ein 6JM muss beteiligt sein.
Diagnostik: Charakteristisch für das Krankheitsbild sind konturierte Opazitäten, die in Form, Größe und Farbe (weiß, cremig, gelblich bis braun) variieren. Schmelzeinbrüche nach Zahndurchbruch. Als neues Kriterium wurde im Update das Vorhandensein von Hypersensitivitäten aufgenommen. In der Praxis fallen atypische Restaurationen, atypische Karies und/oder atypische Extraktionen auf.
Milde („mild“) Formen: begrenzte Opazitäten, ohne Schmelzeinbruch, Sensitivität gegenüber externen Stimuli wie Luftstrahl und Wasser, aber nicht gegenüber bloßem Zähneputzen. Bei Frontzähnen leichte ästhetische Einschränkungen aufgrund von Verfärbung.
Schwere („severe“) Formen: begrenzte Opazitäten mit Schmelzeinbrüchen/Schmelzfrakturen und Karies, andauernde und spontane Überempfindlichkeiten, die die Nahrungsaufnahme und Mundpflege einschränken; starke ästhetische Einschränkungen mit potenziell sozio-psychologischen Folgen.
Ätiologie — Ursachen weiter im Dunkeln
Noch immer sind die Ursachen der MIH weitgehend ungeklärt. Ihre Erforschung ist schwierig, da das Zeitfenster für eine Schädigung der Ameloblasten in der Phase der Schmelzentwicklung zwischen Ende der Schwangerschaft und dem 4. Lebensjahr liegt, während Symptome erst beim Durchbruch des ersten bleibenden Molaren ungefähr im 6. Lebensjahr in Erscheinung treten.
MIH wird als multifaktoriell angesehen. Neben genetischen Faktoren spielen epigenetische Einflüsse und medizinische Faktoren und Erkrankungen im Kindesalter eine Rolle. Einzelne Genvarianten, die MIH triggern könnten, wurden bereits vorgeschlagen [4, 5]. Sauerstoffmangel bei der Geburt, Kaiserschnitt und Frühgeburt sind mit MIH assoziiert, wobei nach Ansicht von Lygidakis Sauerstoffmangel der zugrundeliegende Aspekt sein könnte, da bei Kaiserschnitt zwei- bis fünfmal so häufig Sauerstoffmangel auftritt wie bei spontanen Geburten. Assoziationen liegen ebenfalls vor zu Masern, Mittelohrentzündung, Harnwegsinfektionen, respiratorischen Erkrankungen, Magen- und Nierenproblematiken sowie Fieber.
Prospektive Langzeitstudien sind nötig, um diese Zusammenhänge zu validieren. Genetische Studien sollten überdies auf Gene und Gen-Umwelt-Interaktionen (Epigenetik) fokussieren. Epigenetische Faktoren könnten eine Kausalkette knüpfen zwischen genetischer Prädisposition und systemischen Einflüssen.
Zebramuscheln als Testmodell
PD Dipl.-Chem. Dr. Christof Högg untersucht mögliche Ursachen der MIH anhand von Zebramuscheln als Modell für die Mineralisation des Zahnschmelzes. Ameloblasten können nicht für die Forschung isoliert werden, daher muss ersatzweise ein geeignetes Modell gefunden werden. Für Zebramuscheln als Testmodell spreche laut Högg, dass sie bereits als Modell für die Biomineralisation von Knochen etabliert werden konnten und die Muschelschale Parallelen zum Zahnschmelz aufweise.
Zudem können Testsubstanzen an Zebramuscheln schnell, kostengünstig und ethisch unproblematisch in ihrer Wirkung auf die Mineralisation getestet werden. Bislang ergab das DFG-geförderte Forschungsprojekt keine Hinweise auf negative Effekte von Antibiotika, während Bisphenol-A (BPA) das Wachstum der Muschelschalen hemmte und Vitamin D3 wiederum eine BPA-induzierte Hypomineralisation der Muschelschalen verminderte. Somit könnte Vitamin D3 für die Prävention von MIH infrage kommen.
Wie therapieren? Zwei international anerkannte Ansätze
Die Therapieempfehlungen der EAPD sowie das Würzburger Konzept sind international anerkannte Therapiekonzepte, die beide jüngst ein Update erhielten. Während die EAPD für Therapien bei MIH-Molaren starke Empfehlungen („strong recommendation“) ausspricht, konnte sie für Behandlungsansätze für Frontzähne aufgrund mangelnder Evidenz aus Studien nur eingeschränkte („conditional“) Empfehlungen abgeben [6].
Das Würzburger Konzept [7] basiert auf dem vierstufigen Klassifikationsindex MIH-TNI (MIH-Treatment Need Index), der Schmelzeinbrüche und Hypersensibilitäten der Zähne als Hauptkriterien anlegt. Dieser Index ist an Therapieempfehlungen gekoppelt. Das international anerkannte Behandlungskonzept für die tägliche Praxis wurde 2023 um zusätzliche nicht invasive Strategien, temporäre Therapieoptionen sowie Behandlungsansätze für Inzisiven erweitert.
Beide Konzepte unterscheiden Interventionen für Molaren und für Inzisiven. Bei Letzteren steht der ästhetische Aspekt im Vordergrund, während bei ersteren insbesondere nach posteruptivem Schmelzeinbruch und bei starken Hypersensitivitäten umfangreichere Therapiemaßnahmen in schweren Fällen erforderlich sind. Beide Konzepte unterstützen ein schrittweises Vorgehen mit provisorischen Maßnahmen, die durch eine definitive Versorgung im kooperationsfähigeren Alter der Patienten ersetzt wird.
Weitere Studien sind erforderlich
Fazit: Der zweite AMIT-Kongress bot zahlreiche neue Erkenntnisse zu MIH. Obwohl etliche Fortschritte im klinischen MIH-Management berichtet wurden, fehlen nach wie vor Antworten zu den MIH-Ursachen. Um diese besser zu verstehen, sind weitere Studien erforderlich.
Literatur
[1] Zhao D, Dong B, Yu D, Ren Q, Sun Y. The prevalence of molar incisor hypomineralization: evidence from 70 studies. Int J Paediatr Dent. 2018;28(2):170–179. doi:10.1111/ipd.12323
[2] Kühnisch J, Fresen KF. Prevalence of Enamel Hypomineralisation/Molar Incisor Hypomineralisation: A Scoping Review. Monogr Oral Sci. 2024;32:100–116. doi:10.1159/000538876
[3] Fresen KF, Gaballah R, Schill HI, et al. Prevalence and Association of Caries and Enamel Hypomineralisation/Molar-Incisor Hypomineralisation in 8– to 10-Year-Old Children from Bavaria, Germany. Caries Res. Published online September 12, 2024. doi:10.1159/000541351
[4] Lopes-Fatturi A, Fonseca-Souza G, Wambier LM, Brancher JA, Küchler EC, Feltrin-Souza J. Genetic polymorphisms associated with developmental defects of enamel: A systematic review. Int J Paediatr Dent. Published online July 1, 2024. doi:10.1111/ipd.13233,
[5] da Silva Figueira R, Mustafa Gomes Muniz FW, Costa LC, et al. Association between genetic factors and molar-incisor hypomineralisation or hypomineralised second primary molar: A systematic review. Arch Oral Biol. 2023;152:105716. doi:10.1016/j.archoralbio.2023.105716
[6] Lygidakis NA, Garot E, Somani C, Taylor GD, Rouas P, Wong FSL. Best clinical practice guidance for clinicians dealing with children presenting with molar-incisor-hypomineralisation (MIH): an updated European Academy of Paediatric Dentistry policy document. Eur Arch Paediatr Dent. 2022;23(1):3–21. doi:10.1007/s40368–021–00668–5
[7] Bekes K, Steffen R, Krämer N. Update of the molar incisor hypomineralization: Würzburg concept. Eur Arch Paediatr Dent. 2023;24(6):807–813. doi:10.1007/s40368–023–00848–5
Titelbild: AMIT/Titio