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Neue Leitlinie zu Materialunverträglichkeiten bei dentalen, enossalen Implantaten

Gruppenfoto der Teilnehmer der 5. DGI-Leitlinienkonferenz vor Schloss Ahrenthal

Nicht nur die Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Implantologie (DGI), sondern auch Patientenvertreter, Zahntechniker und Prothetiker, sowie Mitglieder weiterer Fachgesellschaften waren nach Sinzig gekommen, um über neue Leitlinien in der Implantologie zu beraten.

Vom 21. bis 23. September tagten in Sinzig rund 50 Fachleute, um insgesamt neun implantologische Leitlinien zu diskutieren und zu konsentieren. Neben der Aktualisierung der Leitlinien zu Periimplantitis, Zahnimplantatversorgungen bei multiplen Zahnnichtanlagen, bei Diabetes mellitus und bei medikamentöser Behandlung mit Knochenantiresorptiva sowie zur Implantatversorgung zur oralen Rehabilitation im Zusammenhang mit Kopf-Hals-Bestrahlung wurden auch vier neue Leitlinien verabschiedet. Erstmals wurden zu den Themen Implantationszeitpunkt, Platelet rich Fibrin, Keramikimplantate und Materialunverträglichkeiten bei dentalen, enossalen Implantaten klare Empfehlungen in Form von Leitlinien formuliert.
Wir konnten mit der federführenden Autorin der Leitlinie Materialunverträglichkeiten, Dr. Lena-Katharina Müller von der Universitätsmedizin Mainz, sprechen.

Dr. Lena-Katharina Müller in der Diskussion

Dr. Lena-Katharina Müller ist als federführende Autorin seit mehr als anderthalb Jahren mit der Ausarbeitung der Leitlinie zu Materialunverträglichkeiten bei dentalen, enossalen Implantaten beschäftigt.

 

Frau Dr. Müller, wie kam es zur neuen Leitlinie Materialunverträglichkeit bei dentalen, enossalen Implantaten, und wie lange haben Sie daran gearbeitet?
Dr. Lena Katharina Müller:
Neue Leitlinien entstehen immer dann, wenn es Bedarf gibt, ein Thema wissenschaftlich basiert zu untersuchen, die Studienlage zu bewerten und Handlungsempfehlungen für die Praxis zu entwickeln. Das Thema Materialunverträglichkeiten bei dentalen Implantaten ist schon etwas länger virulent. Prof. Dr. Dr. Bilal Al Nawas, Koordinator der Leitlinie, und Dr. Dr. Eik Schiegnitz, DGI-Leitlinienbeauftragter, haben mich gefragt, ob ich mir die Erstellung der neuen Leitlinie vorstellen könnte. Ich habe die Aufgabe sehr gerne angenommen, weil ich das Thema für außerordentlich wichtig halte. Deshalb habe ich vor eineinhalb Jahren begonnen, die Literatur zu dem Thema zu sichten. Eigentlich sollte die neue Leitlinie Materialunverträglichkeiten bei dentalen, enossalen Implantaten schon im vergangenen Jahr verabschiedet werden, aufgrund der Pandemie aber musste die Leitlinienkonferenz in den September 2021 verschoben werden. In diesem Sommer habe ich die Literatur dann nochmals gesichtet, als klar war, dass die Konferenz wirklich tagen kann, und so noch zwei weitere aktuelle Studien in die Leitlinie einfließen lassen.

Wie kann man sich das vorstellen, haben Sie meistens im stillen Kämmerlein gearbeitet?
Müller:
Der Prozess war so, dass zunächst die Literatur von mir gesichtet und bewertet wurde. Zwischendurch gab es immer wieder Unterstützung durch virtuelle Treffen mit der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), bei denen wir die Methodik besprochen haben. Dann habe ich Formulierungsvorschläge gemacht, einen Hintergrundtext formuliert und die Themen gegliedert. Im Vorfeld der Konferenz wurde das über den Verteiler geschickt, sodass sich die Konferenzteilnehmer schon mal einlesen konnten. Auf der Leitlinienkonferenz haben wir die Themen zunächst in kleinen Gruppen diskutiert, später dann im großen Plenum. Hier hatte jeder die Möglichkeit, Einwände, Fragen und Formulierungswünsche einzubringen. Und zwar nicht nur die Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Implantologie (DGI), sondern auch Patientenvertreter, Zahntechniker und Prothetiker, sowie Vertreter weiterer Fachgesellschaften. Die Empfehlungen und Statements der Leitlinie zu Materialunverträglichkeiten haben bei der Abstimmung mehr als 90 Prozent Zustimmung erfahren, also ein sehr starker Konsens. Dabei muss man wissen: Es ist nicht schlimm, wenn jemand gegen eine Empfehlung stimmt, denn es zeigt, dass unabhängige Experten im Raum sitzen.

Was ist die zentrale Aussage der Leitlinie Materialunverträglichkeiten bei dentalen, enossalen Implantaten?
Müller:
Es gibt keine Titanallergie im klassischen Sinn, aber Titanunverträglichkeiten sind sehr wohl ein Thema, wobei die nicht ganz einfach zu diagnostizieren sind. Zudem gilt es zu bedenken, dass die Suprakonstruktionen auf dem Implantat, die zumeist nicht aus Reintitan sondern aus Legierungen bestehen, sowie Verunreinigungen im Implantat selbst sehr wohl klassische Allergien auslösen können. Die Implantate sind meistens aus Titan mit einem sehr hohen Reinheitsgrad, können aber durchaus Verunreinigungen, zum Beispiel mit Nickel oder Zinnpartikeln, aufweisen. Wenn ein Patient eine Nickel- oder eine andere Metallallergie hat, kann der Körper selbstverständlich im Rahmen einer klassischen allergischen Spätreaktion auf diese Substanzen reagieren. Allergien im klassischen Sinne können beispielsweise vom Hautarzt, aber auch durch Labortests wie den Lymphozytentransformationstest (LTT) diagnostiziert werden und sollten vom Implantologen im Vorfeld abgefragt werden. Wesentlich schwieriger ist es hingegen, eine Titanunverträglichkeit zu erkennen. Die Studien zeigen, dass der Epikutantest nicht zuverlässig ist, da Titanunverträglichkeiten eben keine klassische Allergie darstellen, da Titan sehr schnell oxidiert und nicht als Hapten fungieren kann. In der Leitlinie wird der Epikutantest deshalb nicht empfohlen.

Wie kann eine Titanunverträglichkeit leitlinienkonform diagnostiziert werden?
Müller:
Nach unseren derzeitigen diagnostischen Möglichkeiten und unserem pathophysiologischen Verständnis der Unverträglichkeitsreaktion gibt es keinen Test, mit dem eine Titanunverträglichkeit kausal nachgewiesen werden kann. Es gibt hinführende Diagnostiken, wie beispielsweise den Titanstimulationstest oder die Durchführung eines genetischen Tests von IL 1, TNFα und TNFα RA, die hinweisgebend für das Risiko sein können, auf Titanpartikel zu reagieren. Diese Diagnostiken können, wie gesagt, hinweisgebend sein, aber zum aktuellen Zeitpunkt sollte die schlussendliche Diagnostik primär klinisch gestellt werden, und zwar auf der Basis einer guten Anamnese und Befundung. Dabei muss man aber aufpassen, denn häufige Symptome wie das Mund-Schleimhaut-Brennen können sehr wohl auch in die Irre führen. Deshalb sollte die Explantation eines Implantats immer die Ultima Ratio sein, die erst nach einer periimplantären Therapie nach Leitlinie und nach dem Ausschluss anderer Ursachen für die Beschwerden, wie zum Beispiel der Reaktion auf ein Metall in einer in der Suprakonstruktion verwendeten Legierung, in Erwägung gezogen werden. Alles in allem muss man sagen, dass sich Titanimplantate sehr bewährt haben, sie sind nach wie vor der Goldstandard.

Wie reagieren Sie auf Patienten mit Vorbehalten gegen Titan, die sich eine „biologische“ Lösung wünschen?
Müller:
Wenn ein Patient bereits eine positive Anamnese bezügliche multipler Allergien oder eine Neigung zu überempfindlichen Hautreaktionen (Atopie) hat oder vorab den Wunsch nach einem Keramikimplantat äußert, sollte man das natürlich ernst nehmen und alternative Materialen in Erwägung ziehen. Es gibt einige erfolgversprechende Studien zu Keramikimplantaten, aber die Datenlage ist insgesamt natürlich noch dünner als zu den Titanimplantaten – da diese einfach deutlich länger auf dem Markt sind. Deshalb ist die Patientenaufklärung über die Vor- und Nachteile des jeweiligen Materials sehr wichtig. Die neue Leitlinie Keramikimplantate wird diesbezüglich sicher wichtige Hilfestellungen für die Praxis geben. Insgesamt muss man sagen, dass unser Wissen zu immunologischen Reaktionen bezüglich Titanimplantaten noch sehr am Anfang ist. Aus der Leitlinie Materialunverträglichkeiten bei dentalen, enossalen Implantaten lassen sich viele Fragen an Wissenschaft und Industrie ableiten. Ich hoffe, dass wir für den Moment dem Praktiker etwas Licht ins Dunkel bringen können und bei der Aktualisierung in fünf Jahren neue Forschungserkenntnisse gewonnen haben werden.

Nach einer weiteren Abstimmung zwischen den beteiligten Fachgesellschaften und der AWMF wird die Leitlinie in einigen Monaten publiziert (voraussichtlich Anfang 2022) und unter anderem auf www.dginet.de nachzulesen sein.