Der im Wahlkampf aufgedeckte Pflegenotstand in Deutschland hat die Öffentlichkeit alarmiert. In einer der am stärksten alternden Gesellschaften der Welt stehen die Heilberufe vor großen Herausforderungen. An den medizinischen Fakultäten – und besonders im Bereich der Zahnmedizin – werden die Studierenden aber nur sehr begrenzt mit der zahnmedizinischen Betreuung von Senioren und den Besonderheiten der aufsuchenden Betreuung sowie der Zusammenarbeit mit der Pflege vertraut gemacht.
Deshalb will der Hochschultag der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin e.V. (DGAZ) Mindeststandards der universitären Ausbildung für die Seniorenzahnmedizin definieren. Im Fokus steht dabei auch die zahnmedizinische Betreuung der ambulant und stationär Pflegebedürftigen und welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen.
Was kommt auf uns zu?
In den kommenden Jahren werden in Deutschland zunehmend mehr Menschen aus geburtenstarken Jahrgängen in ein Alter kommen, in dem Gebrechlichkeit bis hin zur Pflegebedürftigkeit wahrscheinlicher ist. Schon heute sind fast 40 Prozent der 85- bis 89-Jährigen und 64 Prozent der 90-Jährigen und Älteren pflegebedürftig. Entsprechend gehen Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamts von einem Anstieg der Pflegebedürftigkeit bis 2030 um 35 Prozent aus.
Die starke Zunahme betrifft vor allem betagte Menschen: So wird sich die Zahl Pflegebedürftiger in der Altersgruppe 90+ verdoppeln. Mit dem Pflegestärkungsgesetz 2 erfolgte zum 1. Januar 2017 die Umstellung von drei Pflegestufen auf fünf Pflegegrade. Nach ersten Schätzungen erhöht dies die Zahl erfasster Pflegebedürftiger um weitere 500.000 Menschen. Eine Zahnarztpraxis sollte somit heute schon durchschnittlich 81 Menschen mit einem Pflegegrad betreuen.
Auf der zahnmedizinischen Seite zeigt uns die fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V) aus dem Jahr 2016, dass auch im hohen Alter der Trend zu immer mehr erhaltenen Zähnen geht. Von den 77,4 Prozent, die in der Gruppe der älteren Senioren (75 bis 100 Jahre) nicht pflegebedürftig sind, waren nur 20,8 Prozent vollständig zahnlos. Die anderen haben im Durchschnitt noch 18 natürliche Zähne. Diese Daten entsprechen ziemlich genau denen der jüngeren Senioren (65 bis 74 Jahre) aus dem Jahr 2005 (DMS IV). Bei den Pflegebedürftigen der DMS V sind immerhin 46,3 Prozent nicht zahnlos und besitzen im Durchschnitt noch 12,1 natürliche Zähne, die von den Pflegebedürftigen oft nicht allein im ausreichenden Maße gepflegt werden können.
Die Zahnmedizin ist also gefordert, immer mehr, insbesondere auch hochaltrige Pflegebedürftige zu betreuen, die zudem komplexe zahnmedizinische und allgemeinmedizinische Probleme präsentieren.
Wie fit ist unser Nachwuchs?
Eher nicht so fit. 76,3 Prozent der Zahnmedizistudierenden fühlen sich in der Seniorenzahnmedizin nicht gut ausgebildet. Diese Information stammt aus der aktuellen Generation-Y-Studie des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ), und sie ist mit einer Ausschöpfungsquote von 69,3 Prozent aller Studierenden sehr verlässlich.
Nur 5 Prozent der Studierenden können sich später ein besonderes Engagement in der Seniorenzahnmedizin vorstellen. In der Prognose lägen wir damit bei 1.620 Pflegebedürftigen pro engagierter Praxis, ein völlig unrealistisch hoher Wert. Wenn sich hier nichts ändert, steht zu befürchten, dass die hohen Erwartungen, die in den Verhandlungen mit dem Gesetzgeber und den gesetzlichen Krankenkassen geweckt wurden, vonseiten der Zahnmediziner nicht erfüllt werden können. Damit droht ein Glaubwürdigkeitsschaden, der die ganze Zahnmedizin träfe. Wer die Zahnmedizin für Pflegebedürftige, eine anerkannte vulnerable Patientengruppe, nicht schultert, wird wohl auch wenig Verständnis für teure Endo- oder Spitzenprothetik bekommen.
Status praesens an der Universität
Für die Analyse der bestehenden Probleme und Impulse zur Verbesserung braucht es ein kompetentes Gremium. Die Deutsche Gesellschaft für Alterszahnmedizin bat deshalb für den 12. Mai 2017 alle interessierten Hochschuldozenten zum Hochschultag „Seniorenzahnmedizin in der Lehre“ nach Berlin. In Deutschland besteht im Gegensatz zu der Schweiz keine Verpflichtung, das Fach Seniorenzahnmedizin zu lehren und zu prüfen. Gegenüber dem schweizerischen Leuchtturmprojekt der Universität Zürich, welches zurzeit nur in Einzelaspekten übertragbar wäre, konnte Deutschland zwar viel Idealismus am Tag der Lehre präsentieren, aber leider auch viel Frust:
„Die zahnmedizinischen Abteilungen unterstützen uns nicht.“
„Wenn unsere Veranstaltungen freiwillig sind, kommt keiner.“
„Wenn ich mal eine Vorlesungsstunde bekomme, dann vor Weihnachten, wo eh keiner da ist.“
„Kollegenspruch: Ist ja süß, wenn Du Alterszahnmedizin machst, aber wichtig ist das nicht!“
„Die Studenten haben große Berührungsängste gegenüber Pflegebedürftigen.“
„Altersmedizinische Grundlagen fehlen den Studierenden.“
„Die Heime lassen uns nicht rein.“
„Das Studium ist ohnehin schon mit Themen überladen.“
„Pflegebedürftige spielen später keine Rolle in der Praxis.“
Der Hochschultag war sich einig, dass die Pflegebedürftigen in Deutschland schnell den Stellenwert in der Zahnmedizin erhalten müssen, und zwar in einem Land mit einer der dramatischsten Demografien in der Welt.
Was soll die Universität bieten?
Zahnmedizin für Pflegebedürftige als Teil der Seniorenzahnmedizin ist längst vom „Nice-to-have“ zum „Must-have“ geworden. Dies kommt auch aktuell in der Diskussion um die neue Approbationsordnung zum Ausdruck. Die Teilnehmer des Hochschultags definieren den Mindeststandard, den eine Universität heute in der Seniorenzahnmedizin bieten soll, anhand von vier Punkten:
- Der organisatorische Aufwand für eine theoretische und praktische Ausbildung im Fach Seniorenzahnmedizin ist hoch und erfordert mindestens eine zahnärztliche Vollzeitkraft. Wie ein solches Curriculum organisiert ist – abteilungsübergreifend, von der Prothetik oder der Zahnerhaltung –, wird heute bereits an verschiedenen Universitäten unterschiedlich gehandhabt und erscheint sekundär. Jede Universität sollte einen Zahnmediziner benennen, der Fachkompetenz auf dem Gebiet der Seniorenzahnmedizin hat, egal aus welchem Fachgebiet dieser ursprünglich kommt. Diesem sollte die Verantwortung übertragen werden, die Ausbildung theoretisch multidisziplinär auszugestalten und die aufsuchende Behandlung in Pflegeeinrichtungen und bei ambulant Pflegebedürftigen für die Studierenden zu organisieren.
- Theoretische Inhalte sollen in einer einsemestrigen Ringvorlesung im 8. oder 9. Fachsemester vermittelt werden, die zahnmedizinische mit medizinischen und pflegerischen Themen verbindet – Gerontologie, Geriatrie, Gerontopsychiatrie, Pflege.
- Praktische Inhalte: Übergreifende Aspekte ohne Patientenkontakt werden in einem eintägigen Block unterrichtet – zum Beispiel Umgang mit mobilem Instrumentarium, Alterseinschränkungen etwa im Altersanzug beim Gero-Parcours selbst erleben.
Ein direkter Patientenkontakt ist nicht immer einfach zu organisieren, aber die Universitäten Berlin und Leipzig gehen ein- oder in jedem klinischen Semester mehrmalig in Pflegeeinrichtungen mit den Studierenden. Vorbildhaft erscheint zum Beispiel das Konzept der Universität Köln. In Absprache mit einer niedergelassenen Zahnärztin, die eine Pflegeeinrichtung betreut, besuchen die Studierenden die Bewohner und reinigen regelmäßig deren Zähne mit Zahn- und Interdentalbürsten. Dabei besteht zwar keine zahnärztliche Behandlungssituation im eigentlichen Sinn, jedoch lassen sich auf diese Weise Vorbehalte und Berührungsängste leichter abbauen. Aus einer vergleichenden Studie zweier Unterrichtsangebote ist bekannt, dass die Studierenden den praktischen, zahnärztlichen Kontakt zu den Pflegebedürftigen sehr schätzen.
- Das Curriculum sollte externe zahnmedizinische Praktiker in die Lehre einbinden, die in Pflegeeinrichtungen kontinuierlich tätig sind. Es sollte in den klinischen Fachsemestern – zum Beispiel für das 8. oder 9. Fachsemester – angeboten werden und verpflichtend sein. Freiwillige Veranstaltungen werden nicht in ausreichender Weise besucht. Um die Akzeptanz weiter zu fördern, ist zudem eine Abbildung in den Prüfungsthemen notwendig.
Die dargestellte Struktur mag die Ausbildung der Studierenden ermöglichen, wissenschaftliches Arbeiten wird in einem derart bescheidenen Rahmen natürlich nicht möglich sein. Andere Länder – Kanada, USA – sind hier eindeutig weiter. Deutschland hat leider nur beim Alterungsprozess der Gesellschaft die Nase vorn.
Fazit: Wer im Zahnmedizinstudium die Lebenswelt von Pflegebedürftigen und damit verbunden die Zahnmedizin für Pflegebedürftige nicht als relevant erlebt, wird sich in seinem zahnärztlichen Berufsleben schwertun, den richtigen Zugang zu finden. Es ist eine wichtige Aufgabe der Hochschule, diesen Zugang nachhaltig zu vermitteln.
Prof. Dr. Ina Nitschke und Prof. Dr. Christoph Benz für den Vorstand der DGAZ
Auch dieses Jahr wird es einen „Tag der Lehre“ der DGAZ geben. Er ist terminiert für den 15. September 2018 in Berlin.