Anzeige

Aufsuchende Betreuung funktioniert nicht "in der Mittagspause"

Prof. Ina Nitschke

Prof. Dr. Ina Nitschke ist Präsidentin der DGAZ.

Die Deutsche Gesellschaft für Alterszahnmedizin e.V. (DGAZ) vertritt als wissenschaftliche Fachgesellschaft auf nationaler und internationaler Ebene die Interessen in diesem zahnmedizinischen Bereich. Über die aktuellen Entwicklungen spricht DGAZ-Präsidentin Prof. Dr. Ina Nitschke mit DZW-Redakteurin Evelyn Stolberg im Interview.

Seit 1. Juli ist Paragraf 22 a in Kraft.
Was genau bringt er?

Prof. Ina Nitschke: Menschen mit Pflegedarf und Menschen mit Behinderungen haben nun einen Zugriff auf Leistungen im gesetzlichen Krankenversicherungsbereich, die ihnen eine bessere, ihren spezifischen Bedarfen entsprechende Versorgung sowohl im ambulanten als auch stationären Bereich ermöglichen.

Das Gesetz zur Stärkung des Pflegepersonals soll ab Januar 2019 die Zusammenarbeit von Zahnärzten mit Pflege­heimen stärken, sogar von einer eventuell verpflichtenden Zusammenarbeit ist die Rede. Was hält die DGAZ davon?

Nitschke: Es ist wünschenswert, dass die Pflege Rahmenbedingungen erhält, die es ihr ermöglichen, Zeit in eine strukturierte Zusammenarbeit mit den Konsilärzten, auch den Zahnärzten, zu investieren. Wenn die Rahmenbedingungen fair für die Beteiligten gestaltet werden, wird ein gutes Zusammenwirken möglich sein. Ein Zwang ist dann nicht notwendig.

Einige Zahnärzte schreckt die Behandlung multimorbider Patienten ab. Wie lässt sich die Situation verbessern?

Nitschke: Es gibt verschiedene Konzepte zur aufsuchenden Betreuung, die sich von einfach (beispielsweise eine Reihenuntersuchung) bis aufwändig (beispielsweise gesamte Therapie in der Pflegeinrichtung) gestalten lassen. Die DGAZ kann in den meisten Bundesländern Kolleginnen und Kollegen vermitteln, die als Seniorenzahnmediziner, beziehungsweise als Spezialisten für Seniorenzahnmedizin gern interessierte Zahnärztinnen und Zahnärzte in die aufsuchende Betreuung einführen und manchmal auch in die Einrichtung und zu Hausbesuchen mitnehmen. Auch in der Zeitschrift für Seniorenzahnmedizin gibt es Themen zur Betreuung von multimorbiden Patienten, die mit Fallbeispielen diskutiert werden. Leider unterrichten in Deutschland noch wenige Universitäten das Fach Seniorenzahnmedizin. Somit wird von den meisten Hochschullehrern in Deutschland immer noch die Chance verpasst, den ihnen anvertrauten Studierenden die unterschiedlichen Lebenswelten und Therapiekonzepte der Senioren mit ihrer unterschiedlichen funktionellen Kapazität näherzubringen. Dies bedeutet, dass unsere jungen Kolleginnen und Kollegen postgradual auszubilden sind. Eine postgraduale Fortbildung gestaltet sich jedoch wesentlich schwieriger, gerade beim Start ins Berufsleben, wo viel Neues auf Berufsanfänger zukommt. Die DGAZ hat 2017 den Tag der Lehre eingeführt und möchte damit die Universitäten im Aufbau der gerostomatologischen Lehre unterstützen.

Bei der APW fand 2011 letztmals ein ­Curriculum Seniorenzahnmedizin für Zahnmedizinische Fachangestellte statt. Was könnten die Gründe sein?

Nitschke: Es ist richtig, dass es eine strukturierte Fortbildung bei der APW für die zahnmedizinischen Mitarbeitenden gab. Leider sehen die Kolleginnen und Kollegen noch nicht, dass die Mitarbeitenden sehr viel bei der Betreuung übernehmen und die Zahnärzte entlasten können. Es finden aber immer wieder Fortbildungen statt, wie jetzt zum Beispiel im Rahmen des APW-Curriculums Seniorenzahnmedizin. Hier ist das erste Modul in Berlin ohne die Mitarbeitenden gelaufen; zum 2. Modul in München können die teilnehmenden Zahnärzte eine Mitarbeiterin aus ihrer Praxis mitbringen, die sich dann teilweise parallel zu ihrem Chef, teilweise gemeinsam mit der Chefin, fortbilden kann.

Hat die Industrie den Zweig Seniorenzahnmedizin ausreichend berücksichtigt?

Nitschke: Das ist eine sehr gute Frage, die nicht so leicht zu beantworten ist. In manchen Bereichen scheint sich in der Industrie etwas zu bewegen, aber sehr langsam und immer natürlich von den möglichen zu verkaufenden Stückzahlen abhängig. Vorträge sind vor einigen Firmen und den Zusammenschlüssen von Industriepartnern zum Thema Senioren gehalten worden. Die dann anfänglich vorhandene Euphorie zu den Themen der Seniorenzahnmedizin verebbt aber dann, wenn bemerkt wird, dass der Markt doch nicht einfach ist. Die Silver-Ager oder Best-Ager sind nicht so ganz leicht einzufangen, wie anfangs vermutet. Ich kann mich erinnern, dass die GABA vor etwa 20 Jahren das erste Mal dazu angefragt hat. Wir konnten ein individuelles Lernprogramm für die Pflegenden zusammen umsetzen, kleinere Packungen, wie sie in Pflegeeinrichtungen benötigt werden, scheiterten dann aber an den ökonomischen Marketing-Überlegungen.

Erstaunlich ist aber, dass sich die Hersteller von den zahnärztlichen Behandlungseinheiten noch zu wenig von den offensichtlichen Notwendigkeiten lenken lassen. Letztlich wurde von einem renommierten Industriedesigner ein einfarbiges weißes Behandlungszimmer vorgestellt, vielleicht chic, aber völlig frei von jeder Empathie für ältere Menschen. Haben die Hersteller keine Eltern oder Großeltern? Wo ist da der gerostomatologische Wohlfühlfaktor in diesen Planungen? Also, es tut sich etwas, die Industrie wird aufmerksamer, aber sicherlich gibt es da noch mehr in der Zukunft zu entwickeln und umzusetzen.

Was muss passieren, damit sich mehr Zahnärzte als bislang auf die Seniorenzahnmedizin einlassen?

Nitschke: In den Universitäten sollte eine strukturierte Ausbildung im Fach Seniorenzahnmedizin mit den Zahnmedizin-Studierenden stattfinden. Jede Universität, unabhängig von der fachlichen Spezialisierung innerhalb der Zahnklinik, sollte für sich die Verpflichtung sehen, diese Versorgungsnotwendigkeit anzuerkennen und hierfür auch auszubilden. Während ihres Studiums sollten die Studierenden die unterschiedlichen Facetten des Lebens von Betagten und Hochbetagten erleben können. Besuche in Senioreneinrichtungen sollten verpflichtend sein, Befunderhebung und kleine Therapie bei Hausbesuchen oder in Senioreneinrichtungen sollten nicht nur theoretisch, sondern praktisch erlebt werden. Hier könnten Kooperationen mit niedergelassenen Seniorenzahnmedizinern stattfinden. Eine Ringvorlesung mit Unterstützung der Geriater, Dermatologen, Pflege- und Ernährungswissenschaftlern sollte das praktische Wissen untermauern. Fallpräsentationen, in denen auf die unterschiedlichen Therapiemöglichkeiten bei gleichen Zahnbefunden, aber mit unterschiedlicher zahnmedizinischer funktioneller Kapazität hingewiesen wird, sollten nahegebracht werden.

 In der zahnärztlichen Praxis sollte der Kollegin oder dem Kollegen klar sein, dass die Versorgung der Menschen mit Pflegebedarf nicht einfach schnell in der Mittagspause passieren kann. Langfristig macht dies niemandem im Team eine Freude und ist dann immer eine zusätzliche Belastung. Wird jedoch die zahnärztliche Tätigkeit für zwei bis drei Stunden aus der Praxis bewusst in die Senioreneinrichtung verlegt, ist es leichter, die aufsuchende Betreuung mit der Einrichtung zusammen für beide Partner zu organisieren. Denn eine solche Vorgehensweise lässt sich in die Praxisabläufe zufriedenstellender integrieren.

Die neuen Leistungen durch Paragraf 22 a geben präventiven Maßnahmen mehr Raum. Sollte es gut ausgebildeten Dentalhygienikerinnen erlaubt sein, selbstständig tätig zu werden?

Nitschke: Die Dentalhygienikerin oder auch die Prophylaxeassistentinnen bei der Risikogruppe „geriatrische Patienten“ selbstständig tätig werden zu lassen, entspricht nicht den Anforderungen an eine gute zahnmedizinische Betreuung. Diese Patienten sollten nicht ohne ortsnahe zahnärztliche Unterstützung von zahnärztlichen Teammitgliedern behandelt werden. Allgemeinmedizinisch gesunde Patienten werden in der Praxis auch nicht ohne zahnärztliche Aufsicht behandelt. Der Zahnarzt hat das Ergebnis der delegierten Therapie zu überprüfen und steht für Notfallsituationen zur Verfügung. Dies sieht auch das Zahnheilkundegesetz vor. Warum sollten wir gerade bei den schwerkranken, multimorbiden Patienten das Zahnheilkundegesetz nicht beachten? Sind uns die pflegebedürftigen Patienten weniger wert als die gesunden in der Praxis?

Wie kann man die pflegebedürftigen ­Patienten, die zu Hause betreut werden, erreichen?

Nitschke: Menschen mit ambulantem Pflegebedarf haben sehr unterschiedliche Krankheitsbilder. Viele können mit Unterstützung ihrer Angehörigen oder einer anderen Begleitperson die Wohnung verlassen und die Praxis aufsuchen. Hier stehen immer mehr therapeutische Möglichkeiten zur Verfügung als in der Wohnung des Pflegebedürftigen. Aus diesem Grunde sollten die Pflegebedürftigen und deren Angehörige angemessen über die zahnmedizinischen Betreuungsmöglichkeiten informiert werden. Eine Therapie nicht zu erhalten, weil ein Pflegebedürftiger nicht über die Versorgungsbegrenzungen in seinem Zuhause aufgeklärt ist, würde der Chancengleichheit auf eine gute zahnmedizinische Versorgung widersprechen. Somit sollte klar sein, dass Hausbesuche durch einen Arzt oder Zahnarzt den Menschen vorbehalten sein sollten, die sonst keine Chance auf eine zahnmedizinische Betreuung hätten. Ambulant Pflegebedürftige, die in diese Gruppe fallen, benö­tigen Hilfe und Pflege durch Angehörige, Betreuer oder Pflegedienste. Teilweise bestehen die alten Zahnarztkontakte, die ­genutzt werden können. Ansonsten sind die Angehörigen oder die Betreuer aufgerufen, die halbjährlichen Kontrollen zu organi­sieren. Es wäre auch denkbar, dass die Krankenversicherer ihre pflegebedürftigen Versicherten, die mehr als zwei Jahre nicht beim Zahnarzt waren, darauf aufmerksam machen, dass eine Kontrolluntersuchung sinnvoll wäre. Dieser Impuls könnte bei den ­Angehörigen als auch bei der Pflege als Hinweis aufgenommen werden, die Mundgesundheit zu thematisieren und einen Besuch beim Zahnarzt oder des Zahnarztes zu bahnen.

Einige Z-MVZ suchen aktuell gezielt nach Kollegen, die sich um die aufsuchende Betreuung kümmern sollen. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

Nitschke: Ich habe diese Entwicklung noch nicht wahrgenommen, aber vielleicht gibt es innerhalb der MVZ Kolleginnen und Kollegen, die sich empathisch dem Bereich der Seniorenzahnmedizin widmen. Jeder Zahnarzt, der gebrechliche und pflegebedürftige Menschen zahnmedizinisch betreut, ist uns willkommen. Die DGAZ unterstützt alle Kolleginnen und Kollegen, die sich spezialisieren wollen, gern.