Frühgeburten sind in Deutschland mit 6,7 Prozent aller Geburten häufig. Eine neue systematische Literaturauswertung zeigt, dass die betroffenen Babys im Vergleich zu fristgerecht geborenen ein dreifach erhöhtes Risiko für entwicklungsbedingte Störungen der Schmelzbildung haben [1]. Dazu gehören neben Verfärbungen lokalisierte oder an mehreren Zähnen auftretende Schmelzhypoplasien einschließlich Molaren-(Inzisiven-)Hypoplasien (MIH) der Milch- und bleibenden Zähne.
Die relative Chance (Odds Ratio, OR), dass Frühgeburt und Zahnbildungsstörungen zusammen auftreten, war bei Milchzähnen (OR=4,07) größer als bei bleibenden (OR=1,57). Der Anteil von MIH (OR=1,64) war geringer als von „Hypoplasie“ (6,63) oder Verfärbung (1,98). Bei gemeinsamer Betrachtung mit lokalisierten Schmelzhypoplasien liegt der MIH-Wert deutlich höher.
Schmelzbildungsstörungen in der perinatalen und frühkindlichen Phase sind mindestens seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannt [2, 3]. Nach der Erkrankungs-Klassifikation der WHO (ICD-10) werden sie mit anderen Zahnbildungsstörungen zusammengefasst. Aufgrund vermuteter Prävalenz-Zunahme und des charakteristischen Verteilungsmusters von „Kreidezähnen“ erhielten diese im Jahr 2003 die Bezeichnung Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation.
Als Ursachen werden unter anderem Erkrankungen des Kindes oder der Mutter im dritten Trimenon oder die Einwirkung von Medikamenten während der sensiblen (perinatalen) Schmelzbildungsphasen vermutet. Dazu passen die oben zitierten Ergebnisse zu erhöhter MIH-Inzidenz bei Frühgeburt, die ihrerseits mit häufigeren schweren Erkrankungen und Hospitalisierungen verbunden ist [4].
Während ätiologisch bisher meist direkte Schädigungen der Ameloblasten vermutet werden, deuten neue Studien auf extrazelluläre, also indirekte Einflüsse. So zeigt eine im Mai 2020 publizierte In-vitro-Untersuchung, dass sich fetales Serumalbumin (Alpha Feto Protein AFP) in entstehende Zahnsubstanzen einlagern kann [5]. AFP ist in verfärbten MIH-Defekten nachweisbar, bindet an Hydroxylapatit und beeinträchtigt so die Schmelzhärtung. Der Gehalt des Proteins ist bei Frühgeborenen und Hepatitis erhöht. Die eingesetzte Analysemethode für AFP könnte daher laut Studienautoren bis in die frühe postnatale Phase diagnostisch eingesetzt werden, um ein erhöhtes MIH-Risiko vorauszusagen. Ob der Befund dazu beiträgt, die Ätiologie der Erkrankung nachhaltig zu klären, bleibt abzuwarten.
Jan H. Koch
Literatur
1. Bensi, C., et al.; International Journal of Paediatric Dentistry 2020. 30 (6): 676-686.
2. Lang, T., et al.; zahnärztliche mitteilungen 2020. 110 (20): 1932-1935.
3. Gängler, P., et al.; zahnärztliche mitteilungen 2020. 110 (20): 1918-1930.
4. Coathup, V., et al.; BMJ 2020. 371 m4075.
5. Williams, R., et al.; Frontiers in Physiology 2020. 11 (619): .
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