Im Gesundheitswesen sind Papier und Faxgerät oftmals Mittel der Wahl. Digital läuft bislang wenig. Nun will Bundesminister für Gesundheit Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) die elektronische Patientenakte (ePa) vorantreiben. Das sieht eine neue Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen vor, die Lauterbach vorgelegt hat. Die ePA bietet viele Vorteile: Sie könnte etwa gefährliche Wechselwirkungen bei Medikamenten verhindern. Aber es gibt auch Risiken, etwa beim Datenschutz.
Deutschlands Gesundheitswesen hänge in der Digitalisierung um Jahrzehnte zurück, stellte Lauterbach fest. „Das können wir nicht länger verantworten. Deshalb solle ‚ein Neustart‘ kommen, um die ePA für alle zu erschließen, elektronische Rezepte (E-Rezepte) alltagstauglich zu machen und die Forschung auf Basis von Gesundheitsdaten zu erleichtern. Die Vorteile der Digitalisierung zu nutzen, mache die Behandlungen besser. In diesem Zusammenhang will Lauterbach, dass die Gesellschaft für Telematik (Gematik GmbH) zu einer „Digitalagentur in hundertprozentiger Trägerschaft des Bundes weiterentwickelt und in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt“ wird.
ePA bisher keine Erfolgsgeschichte
Seit Anfang 2021 können die rund 74 Millionen gesetzlich Versicherten eine ePA von ihrer Krankenkasse erhalten. Es gilt bislang die Opt-in-Regelung, das heißt, die Versicherten entscheiden selbst, ob und wie sie die Akte nutzen. So ist es im Terminservice- und Versorgungsgesetz vom Mai 2019 festgelegt. Niedergelassene (Zahn-)Ärzte und Krankenhäuser müssen demnach mit allen erforderlichen Komponenten ausgestattet sein, um die ePA nutzen und befüllen zu können.
Für die Patienten heißt das, dass sie sich also selbst kümmern müssen, die ePA zu erhalten. Dafür müssen sie eine App ihrer Krankenkasse herunterladen und sich für die Nutzung bei ihrer Krankenversicherung registrieren. Anschließend müssen die Patienten die medizinischen Daten mittels ihrer elektronischen Gesundheitskarte (eGK) und einer persönlichen Identifikationsnummer (PIN) freischalten beziehungsweise muss die Patientenakte durch den Versicherten für den Leistungserbringer freigeschaltet werden. Dann können in der Akte Dokumente wie Arztbriefe, Laborwerte und Befunde abgespeichert werden – sofern sie digitalisiert sind. Falls nicht, müssten diese gescannt und hochgeladen werden.
Derzeit nutzen weniger als ein Prozent der Patienten die ePA. Daher sollen bis Ende 2024 für jeden gesetzlich Versicherten die digitale Akte eingerichtet werden – es sei denn, derjenige lehnt das aktiv ab. Erklärtes Ziel bis 2025 ist, dass 80 Prozent der gesetzlich Versicherten eine ePA haben. Bis Ende 2025 sollen 80 Prozent der ePA-Nutzer, die in medikamentöser Behandlung sind, über eine digitale Medikationsübersicht verfügen.
Krankenkassenverbände sehen im geplanten Opt-Out-Verfahren eine notwendige Voraussetzung, dass sich die ePA flächendeckend im Gesundheitswesen etablieren kann und genutzt wird. Wichtig dabei sei, dass die ePA auch regelmäßig von Ärzten, Krankenhäusern, Apotheken und anderen Leistungserbringern befüllt wird. Darüber hinaus müssten die Benutzerfreundlichkeit der ePA und ihre Anwendung vereinfacht werden.
E-Rezept als verbindlicher Standard
Nach Plänen des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) sollen außerdem E-Rezepte nach einer bisher stockenden Einführung einfacher nutzbar und Anfang 2024 zum verbindlichen Standard werden. Zwingende Voraussetzung dafür sei, so die Krankenkassen, dass das E-Rezept dann auch mit der eGK ohne Eingabe einer PIN eingelöst werden kann und nicht wie bisher nur über die Gematik-App. Eine Verbesserung der Versorgung kann erreicht werden, wenn relevante Arzneimittelinformationen automatisiert und strukturiert in der ePA zur Verfügung gestellt werden.
Gesetzlich geregelt werden sollen auch mehr Datenauswertungen für die Forschung. Dafür soll eine zentrale Stelle eingerichtet werden, die einen Zugang zu pseudonymisierten Daten aus verschiedenen Quellen wie Registern und Krankenkassendaten ermöglichen soll.
Zwei konkrete Gesetzesvorhaben
Nach Angabe des BMG ist die Digitalisierungsstrategie über mehrere Monate gemeinsam mit Patientenvertretern und Akteuren des Gesundheitswesens entwickelt worden. Sie soll Orientierung dafür bieten, wie sich Versorgungsprozesse, Datennutzung und Technologien bis Ende des Jahrzehnts weiterentwickeln müssen, um Gesundheitsversorgung zu verbessern. Zwei konkrete Gesetzesvorhaben folgen dieser Idee: Das Digitalgesetz, das den Behandlungsalltag mit digitalen Lösungen verbessert. Und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz, mit dem Gesundheitsdaten für die Forschung erschlossen werden. Das Gesetzespaket soll in den nächsten Wochen vorgelegt werden – auch mit konkreten Regelungen zur praktischen Umsetzung.
Verschiedene Organisationen und Verbände äußern Kritik
Die Verbraucherzentralen fordern, es müsse einfach festzulegen sein, welcher Arzt auf welche Daten zugreifen dürfe. Ein „Alles oder Nichts“ sei der falsche Weg. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz warnt, den Bürgern dürfe nicht die Kontrolle über ihre medizinischen Daten entzogen werden, „denn Schweigen bedeutet nicht Zustimmung“.
Darüber hinaus wird von einigen Seiten bemängelt, dass die forschende Industrie – etwa Pharmaunternehmen – künftig die Patientendaten für eigene Zwecke verwenden darf. Die Unternehmen können die Nutzung beim Forschungsdatenzentrum des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) beantragen. Dass sensible Gesundheitsdaten ohne die aktive Einwilligung des Patienten auch an die Industrie weitergegeben werden sollen, gefährde das Vertrauen in die ePA.
Mit Blick auf die noch fehlenden konkreten inhaltlichen Vorgaben, die daraus abgeleiteten technischen Festlegungen und ihre datenschutzkonformen Implementierungen in den IT-Systemen ist das erklärte Ziel einer verpflichtenden Einführung in 2024 für die Kassenärztliche Bundesvereinigung unrealistisch.
Auch die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) bezweifelt in ihrer Stellungnahme die Praxistauglichkeit: Wenn Lauterbach das hohe Versorgungsniveau für die Patienten in Deutschland mit den von ihm vorgestellten Zielen und in dem von ihm gewünschten Tempo verbessern will, müsse er dafür Sorge tragen, so die KZBV, dass die Gematik schnellstmöglich für die ePA ein allseits konsentiertes Datenkonzept finalisiert. Denn dieses sei die Voraussetzung für die Entwicklung der für die Interoperabilität von IT-Systemen zwingend notwendigen Softwareprogramme, ohne die weder eine weitestgehend automatisierte Datenbefüllung noch Datenextraktion der ePA möglich ist.
Keine Verstaatlichung der Gematik
Deutliche Kritik gibt es an den Plänen zum Umbau der Gematik in eine Digitalagentur, die zu 100 Prozent Eigentum des Bundes sein soll. Gleichzeitig soll aber die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) zu 100 Prozent die Kosten übernehmen. Eine solche Verstaatlichung der Gematik lehnen die Krankenkassenverbände ab. Der Staat könne nicht bestimmen und die GKV solle zahlen. Eine Digitalagentur müsse von der gemeinsamen Selbstverwaltung getragen werden, damit die Interessen der Versicherten, Leistungserbringer und Beitragszahler adäquat vertreten werden, so der Verband der Ersatzkassen.
Auch die BZÄK kritisiert diese Entscheidung des BMG. Immer wieder hatte sie sich dafür eingesetzt, dass Anwendungen wie die ePA oder das E-Rezept ausreichend getestet und evaluiert werden und insbesondere das notwendige Datenschutzniveau erreichen. 2019 hat das BMG 51 Prozent der Anteile der gematik übernommen. Jetzt werde der letzte Schritt zur vollständigen Kontrolle vollzogen, so die BZÄK. Ob der Verzicht auf die Expertise der Leistungserbringerorganisationen allerdings zu Verbesserungen führt und die Akzeptanz der Telematik bei Zahnärzten, Ärzten und Apothekern erhöht, sei äußerst fraglich.
Dass das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik bei der ePA künftig nur noch beratend tätig ist, lässt Kritiker befürchten, dass das Datenschutzniveau sinkt. Die BZÄK weist auch darauf hin, dass die Diskussion darüber geführt werden muss, unter welchen Bedingungen Gesundheitsdaten für Forschungszwecke bereitgestellt werden, in die Mitte unserer Gesellschaft getragen und nicht von Staats wegen verkündet werden.
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