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Interview: Mundgesundheit bei Flüchtlingskindern
Prof. Dr. Christian Splieth leitet an der Universitätsmedizin Greifswald die Abteilung für Präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde.

Prof. Dr. Christian Splieth leitet an der Universitätsmedizin Greifswald die Abteilung für Präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde.

Zum Deutschen Zahnärztetag 2017 wurde eine Studie der Universität Greifswald unter Beteiligung der DGZMK, BZÄK und KZBV vorgestellt zum Thema „Flüchtlinge in Deutschland – Mundgesundheit, Versorgungsbedarfe und deren Kosten“. Ein Ergebnis: Insbesondere Kinder weisen einen deutlich erhöhten Kariesbefall auf. Woran das liegt und wie man dem Problem begegnen kann, erläutert Prof. Dr. Christian Splieth, Leiter des Autorenteams an der Universität Greifswald, im DZW-Interview.

Herr Prof. Splieth, können Sie die zentralen Ergebnisse der Studie in Bezug auf Kinder kurz zusammenfassen?

Prof. Dr. Christian Splieth: Die Kinder haben zwei- bis fünffach höhere Karieswerte im Mittel, als es die deutsche Wohnbevölkerung hat. Das heißt, bei den Kindern und Jugendlichen lässt sich eine ganz deutliche Präventionslücke gegenüber der deutschen Wohnbevölkerung ablesen.

Das liegt auch daran, dass der Präventionsgedanke in den Herkunftsländern noch nicht so präsent ist?

Splieth: Genau. Andere Studien und die WHO-Datenbank sagen, dass auch in den Heimatländern entsprechend hohe Karieswerte vorliegen. Das liegt zum Teil auch daran, dass – was wir hier in Deutschland vor rund 30 Jahren hatten – ein symptombasierter und restaurativer Ansatz in der Zahnmedizin vorherrscht. Da es dort häufig keine zahnmedizinische Krankenversicherung gibt, gilt dann auch eher eine „Vermeidungsstrategie“, der Zahnarzt wird nur bei Beschwerden und Problemen aufgesucht.Bei uns ist es inzwischen ja Usus, zum Zahnarzt zu gehen, um gesunde Zähne zu behalten. Dieses Denken findet sich in diesen Ländern und Kulturen bisher primär nicht wieder, und das wirkt sich bei Kindern und Jugendlichen – wo wir in Deutschland ein Erfolgsland sind – am stärksten aus.

Wie kann diese Präventionslücke geschlossen werden?

Splieth: In Deutschland haben wir 30 Jahre gebraucht, unsere Bevölkerung davon zu überzeugen, dass Zahnmedizin einen deutlich überwiegenden präventiven Ansatz hat. Es wäre sehr sinnvoll, diese Information möglichst strukturiert und möglichst frühzeitig an Flüchtlinge zu geben, die eine Bleibeperspektive haben. Da gäbe es im Prinzip die Erstaufnahmeunterkünfte, die liegen ja in einem Landkreis, und in einem Landkreis gibt es auch einen Jugendzahnarzt des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Das heißt, man könnte es als kommunale Aufgabe festschreiben, dort Gruppenprophylaxe anzubieten, um tatsächlich die Präventionslücke zu schließen. Die Strukturen daür stehen in den einzelnen Bundesländern durch die Landesarbeitsgemeinschaften für Jugendzahnpflege bereit. In den Einrichtungen der Erstaufnahme sind die Flüchtlinge zentral gut zu erreichen und haben relativ viel Zeit. Wenn sie dann erst einmal anerkannt sind und sich in Schule und neuen Wohnumfeld zurechtfinden müssen, haben sie meist andere Sorgen.

Inzwischen gibt es erste Erfahrungen – was funktioniert, was nicht?

Splieth: Wir haben keine randomisierten Studien mit einer Kontrollgruppe. Was wir durchaus sehen, ist ein hohes Interesse der Eltern, dass ihre Kinder gesunde Zähne haben – wir sind ja auch eine Versorgungseinrichtung und betreuen viele Flüchtlinge, weil wir bei uns durch das Masterprogramm Kinderzahnheilkunde Zahnärzte mit Arabisch und vielen andere Sprachen haben. Das heißt, im Rahmen der Prävention, die das GKV-System bereithält, und im Bereich der Sanierung haben wir sehr aufgeschlossene Patienten.

Wir stellen bei vielen Flüchtlingen tendenziell auch einen positiven Selektionseffekt fest: Jemand muss viel Selbstwirksamkeit aufbringen, um seine Habe zu packen, sich aus seinem eigenen Land und Kulturkreis zu verabschieden und es in einem anderen Land selbstständig zu wagen. Das heißt, es sind zu einem erheblichen Anteil Leute, die die eigenen Geschicke in die Hand nehmen. Und von daher haben wir mit denen, die als Patienten zu uns kommen – nicht repräsentativ oder die Grundgesamtheit aller – gute Erfahrungen gemacht. Sie nehmen unsere Ideen, wie wir orale Gesundheit sehen und wie wir sie fördern wollen, sehr gut an.

Generell ist es schwierig, von den Flüchtlingen zu spechen, die Menschen kommen aus unterschiedlichen Ländern und Motiven.

Splieth: Ja, das stimmt. Ein großer Teil kommt aktuell aus dem arabischen Raum. Dort ist Gesundheit und Zahngesundheit ein wichtiges, hohes Gut. Das heißt, unsere Behandlung wird wertgeschätzt und angenommen.

Einmal ganz konkret in die Praxis: Wenn ich als Zahnarzt ein Flüchtlingskind behandeln möchte, das vielleicht Schlimmes erlebt hat. Wie erreiche ich es?

Splieth: Es geht nicht ohne Sprache. Ohne Sprache gibt es keine Kommunikation, weder mit den Eltern, noch mit den Kindern. Ich würde im beiderseitigen Interesse dafür plädieren – damit der Zahnarzt nicht frustriert ist, dass der Patient ihn nicht versteht, und umgekehrt – als Patient selbst einen guten Dolmetscher mitzubringen. Eine andere Variante ist, dass Zahnärzte in Großstädten – wo das vielleicht geht – durchaus auch ZFAs mit Migrationshintergrund anstellen. Bei vielen türkischen Kollegen ist das schon passiert, dort gibt es in vielen Praxen in Berlin, Köln oder Frankfurt beispielsweise ZFAs, die dann ins Türkische übersetzen können. Das würde ich auch für den arabischen Bereich anregen, das ist ja die größte Gruppe der Flüchtlinge.

Das geht in die Richtung einer migrationssensiblen Zahnmedizin, für die ja auch Kollegen plädieren?

Splieth: Ja. Das würde ich für wichtig halten. Es gibt Untersuchungen, beispielsweise aus Singapur, zu der Frage, wen sich Eltern als Zahnarzt für ihre Kinder wünschen: Da gehört neben jung und weiblich, (die Kinder wollen dasselbe Geschlecht als Behandler) auch dieselbe ethnische Gruppe dazu. In Deutschland haben zumindest deutsche Eltern angegeben, dass es ihnen nicht wichtig ist, welchen Kulturhintergrund der behandelnde Zahnarzt hat. Aber es kann durchaus sein, dass der Kommunikationsansatz und ein grundsätzliches Verständnis von gewissen Dingen besser läuft, wenn man sich im Kulturkreis etwas auskennt.

Für die Flüchtlinge wäre es noch aus einem anderen Grund klug, in Praxen zu gehen, die die Sprache quasi „mitliefern“ können. Laut Patientenrechtegesetz muss ja beispielsweise der Patient bei einer Anamnese bei der Lokalanästhesie in der Zahnentfernung gründlich über seine medizinische Geschichte Auskunft geben, um Risiken und Komplikationen ausschließen zu können. Und er muss über die Prozedur adäquat aufgeklärt werden, das funktioniert alles nur gut, wenn die beiden wenigstens eine gemeinsame Sprache finden. Das macht auch Motivation, Prävention und Verhaltensänderung viel einfacher. Ich habe natürlich leicht reden. Wir haben ein Masterprogramm Kinderzahnheilkunde, wo wir jedes Jahr sechs ausländische Kollegen aufnehmen, die dann zehn Fremdsprachen haben. In einer Landpraxis ist das ein bisschen schwieriger

Jetzt noch zu einem anderen Thema, das gerade wieder durch die Fach- und Publikumspresse gegangen ist: MIH, Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation. Ist die Krankheit bei den Kindern, die jetzt zu uns kommen, im selben Ausmaß feststellbar?

Splieth: MIH ist eine der ganz wenigen Sachen, die wir in der Studie nicht spezifisch untersucht haben. Aber wir sehen MIH auch dort. Wir haben es mit demselben Standard und demselben Doktoranden in Greifswald und drei weiteren Großstädten in Deutschland sowie in Dubai gemessen, und da ist die Prävalenz annähernd gleich, aber nicht bedrohlich hoch, sondern bei knapp 10 Prozent.

Die Ätiologie ist noch ungeklärt, es gibt offensichtlich moderate Evidenz für Weichmacher aus Kunststoffen wie Bisphenol-A.

Splieth: Das ist absolut spannend. Es gibt diese eine französische Studie, in der man Ratten Bisphenol-A gegeben und festgestellt hat, dass in gewissen Phasen der Schmelzbildung das Bisphenol-A MIH-ähnliche Störungen verursacht.

Mein Problem: Ein Kind lebt vom ersten bis zum letzten Tag in derselben Lebenswelt, das heißt, es ist konstant mit dieser Lebenswelt exponiert und hat konstant ein gewisses Toxikologielevel. MIH findet sich aber fast ausschließlich an den Einsern und den Sechsern, die sehr kurz nach der Geburt mineralisiert werden. Man kann ganz sicherlich auf viele Arten die sehr sensiblen Ameloblasten beschädigen, es ist aber nicht so wahnsinnig plausibel, dass nur die Zähne, die direkt nach der Geburt mineralisiert werden, MIH bekommen aufgrund von Schadstoffen, und all die anderen Zähne, die in den sechs Jahren danach mit ja derselben Schadstoffexposition mineralisiert werden, „clean“ davonkommen.

Ich würde eher ein geburtsnahes Ereignis, etwa bis ins erste Lebensjahr, für relativ wahrscheinlich halten. Um die Geburt herum gibt es viele einmalige Ereignisse, die Geburt selbst, Silbernitrattropfen, fetale Gelbsucht etc. Was mich am meisten irritiert ist, wenn Kollegen aus der Kinderzahnheilkunde behaupten, es sei der subklinische Vitamin-D-Mangel, den wir alle haben, MIH werde durch Vitamin-D-Mangel verursacht. Die Einzigen, die wirklich flächendeckend supplementiert werden, sind die ganz Kleinen im ersten Lebensjahr. Ausgerechnet die Zähne, die in diesem Zeitfenster mineralisieren, bekommen aber MIH.