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Self Hugging oder der innere Maßstab
Self Hugging

Self Hugging ist in Maßen gut. Wer es damit übertreibt, verliert die Bedürfnisse anderer aus dem Blickfeld.

Wir umarmen uns gerne selbst. Dabei erheben wir unser Denken, Fühlen und Handeln wie selbstverständlich zum Maßstab für andere. Dieser wird zu einem inneren Gesetz, an dem wir das Verhalten anderer Menschen messen. Unsere Stärken unterstellen wir dabei unseren Mitmenschen und unsere Schwächen stören uns am anderen besonders. Diese Tendenz nennen Psychologen Self Hugging und sie ist den meisten Menschen nicht einmal bewusst.

Etwas knackig auf den Punkt bringen? Das kann doch jeder. Verstehen, was der Kollege braucht und wie man ihn am besten unterstützen kann? Ist doch nichts Besonderes. Eine Sache bis ins Detail durchdenken? Kein Problem. Machen wir alle. Ordnung? Selbstverständlich. Selbstverständlich? Mitnichten. Diese Fähigkeiten sind nicht in jedem genetischen Code festgeschrieben, sondern gehören zu den Besonderheiten einer Person.

Umgekehrt gilt Gleiches. „Klar, lasse ich andere ausreden und höre gut zu“, behaupten die meisten Menschen von sich. Bei Licht betrachtet sind es sehr wenige, die diese Kunst tatsächlich beherrschen. Nicht umsonst gibt es eine App, die zählt, wie oft wir andere Menschen unterbrechen. Etwas organisieren und alles im Blick zu behalten und zu jedem Zeitpunkt aufmerksam sein, klingt auch nicht weiter schwer. Aber auch diese Fähigkeit wurde vielen Menschen nicht in die Wiege gelegt. „Ach, das hatte ich vergessen. Kann doch mal passieren“, ist dann oft die lapidare Antwort, wenn es auffällt. Oder „Ist das denn wirklich so wichtig?“ Leicht sind wir genervt, wenn es um unsere Inkompetenzen geht. Und damit sind wir in bester Gesellschaft. Wir weichen unangenehmen Situationen aus, dabei sind genau diese unsere Lehrmeister. Immer dann, wenn etwas nicht so gelingt, wie wir es uns vorstellen, können wir etwas über uns und unser Verhalten lernen und uns weiterentwickeln.

Vor der eigenen Haustür kehren

Die Liste der eigenen Fehlleistungen ist lang. Wir lassen andere warten, obwohl wir zugesagt haben, pünktlich da zu sein. Wir haben keine Lust eine Parkplatz zu suchen und Brot zu kaufen, obwohl wir versprochen haben, welches mitzubringen. Wir fahren das Auto leer und stellen es stillschweigend vor die Tür. Wir vergessen, dass wir zugesagt haben, auf die Kinder aufzupassen und kommen zu spät nach Hause. Das alles sind Ansatzpunkte zur Selbstentwicklung und zwar, bevor wir vor den Haustüren der anderen Menschen den Hochdruckreiniger einschalten.
Das machen wir viel lieber, als vor der eigenen Tür zu kehren. Den eigenen Hof nehmen wir meist als gepflegter wahr als den des Gegenübers. Und auch die Blätter, die der Herbststurm hereingeweht hat, übersehen wir schlicht. Wenn aber nebenan drei Blättchen liegen, dann geht uns Kritik sehr leicht über die Lippen und wir haben die Finger schon auf dem Einschaltknopf.

Das Schöne an dieser Selbsttäuschung ist, dass wir sie nicht bewusst wahrnehmen können. Wir sehen nur das, was wir sehen wollen und ignorieren schlichtweg alles andere. Eigentlich nicht schlecht. Sich ernsthaft mit sich selbst auseinanderzusetzen, öffnet den Blick für andere. Wir nehmen dann den Fokus von den drei Blättern weg und erfassen ganz andere Persönlichkeitseigenschaften und Kompetenzen. Menschen bemerken schnell, ob wir uns tatsächlich für sie interessieren, oder ob wir uns in Wahrheit nur selbst wichtig nehmen und alles aufnehmen, was uns maximal nützt. Der feine Grad zwischen professionell notwendigem und tatsächlichem Interesse wirkt emotional direkt.

Nicht nur sich selbst umarmen

Es lohnt sich, hin und wieder den Maßstab, den wir an das Handeln anderer Menschen, insbesondere an Mitarbeiter, anlegen, zu überprüfen. Sind diese Fähigkeiten tatsächlich selbstverständlich und kann ich sie voraussetzen? Vielleicht hat der andere ganz andere Fähigkeiten, die ich noch nicht entdeckt habe, die aber gewinnbringend in der Praxis eingesetzt werden können?

Maria ist beispielsweise verzweifelt über ihre Mitarbeiterin Sanka. Ihr fehlt aus Marias Sicht jegliches Gefühl für Farbe, Form und Passung. Wenn Sanka Blumen für den Empfang kaufen soll, dann bringt sie „Gestrüpp“ mit, das Maria schon mal direkt in den Mülleimer geworfen hat. Sie kann auch das Wartezimmer nicht so aufräumen, dass man sich darin wohlfühlt. Außerdem verliert sie sich dabei schon mal selbstvergessen in der einen oder anderen Illustrierten. Und auch bei ihrem Outfit stehen Maria die Haare zu Berge. Sie trägt zwar die vorgeschriebene Arbeitskleidung, aber unter ihren weißen Hose leuchten bunte Kätzchen- , Pünktchen- und Blümchensöckchen hervor. Ein No-Go für Maria. Sie kann einfach nicht verstehen, dass man so wenig Gefühl für sich und für seine Umgebung aufbringt. Und sie hat Sorge, dass das auch die Patienten so empfinden.

Nun hat Maria die Wahl: Verbleibt sie im Self Hugging und regt sich über Sankas Erscheinung und Verhalten auf? Das kann sie tun. Zweifelhaft ist, ob es mit Gesprächen und Beratung gelingt, Sanka von ihrer Art abzubringen. Maria entscheidet sich anders. Sie will Sanka genau beobachten und schauen, wie das, was sie als Unfähigkeit beschreibt, wirkt. Vielleicht kann es sogar eine Fähigkeit sein, die in der Praxis nützlich ist.

Maria schaut nun neugierig auf Sanka und versucht, nicht ihren eigenen Maßstab in den Vordergrund zu stellen. So fällt ihr auf, dass Sanka durch ihre etwas buntere und langsamere Art Kontakt zu Patienten bekommt, die das sehr positiv aufnehmen. Dazu gehören ältere Menschen, mit denen sie schon im Wartezimmer ins Gespräch kommt und die sich außerordentlich gut belgeitet fühlen. Häufiger bekommt sie sogar eine Flasche Sekt oder Pralinen mitgebracht: „Für Ihre nette Helferin. Die mit den hübschen Söckchen.“ Und auch Kinder lieben Sanka. Sie starren auf die kleinen Kätzchen auf ihren Knöcheln und halten nach einer Weile ihre Hand. Sanka kann jedes Kind beruhigen und zum Behandlungsstuhl begleiten. Die Behandlung eines Kindes an der Hand von Sanka ist viel leichter, als wenn die Mutter dabei ist. Oft sagen die Kinder, dass die Mutti draußen bleiben kann.

Diese neue Wahrnehmung hilft Maria, sich vom Self Hugging zu befreien und die Kompetenzen des anderen ohne Bewertung aufzunehmen. Und in diesem Fall sind diese für die gemeinsame Arbeit nutzbar. Anstatt also sich selbst zu umarmen, gelingt es Maria, auf ihre Mitarbeitern zuzugehen. Und der Nebeneffekt ist, dass Sanka, weil sie sich akzeptiert fühlt, nicht böse ist, wenn ihre Chefin auch mal Kritik loswerden möchte.

Jeden in seiner Art zu lassen und diese wertschätzend anzuerkennen, kann in der Zusammenarbeit ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Sicher ist es gut, sich auch einmal selbst zu umarmen, aber wenn es beim Self Hugging bleibt, dann wirkt eine Praxis oder ein Labor emotional arm.