Mitte Februar wurde die S3-Leitlinie zu Keramikimplantaten von Leitlinienkoordinator Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz, dem federführenden Studienautor PD Dr. Dr. Daniel Thiem und der DGI-Pressesprecherin Dr. Dr. Anette Strunz vorgestellt. Wir konnten Prof. Grötz einige Frage zu den Kernaussagen der Leitlinie stellen.
Herr Prof. Grötz, was bedeutet die S3-Leitlinie Keramikimplantate für die Anwender in der täglichen implantologischen Praxis?
Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz: Zahnmedizin, insbesondere die Implantologie, lebt von Innovationen. Ohne sie gäbe es keinen Fortschritt. Interessant und beachtenswert ist, wie diese Innovationen in den Markt getragen werden. Bei den Keramikimplantaten, die erstmals in den 80er Jahren aufkamen und in den 90er Jahren zunächst wieder verschwanden, ist mit dem Wiedereintritt in den Markt ein starker Marketing-Druck entstanden. Bei der DGI haben wir festgestellt, dass dieser Druck sowohl von manchen Herstellerfirmen, aber eben auch von den Implantologen selbst ausging. Im Zuge dessen wurden Behauptungen aufgestellt, deren Belegbarkeit uns in der Fachgesellschaft fragwürdig erschien. Deshalb haben wir beschlossen, eine Leitlinie zu den Keramikimplantaten zu erstellen, damit alle Zahnärzte, die Implantate setzen, für sich selbst – aber vor allem im Aufklärungsgespräch mit den Patienten – eine wirkliche Handlungssicherheit haben. Nur so kommen Evidenz und Empirie in die Diskussion – und vor allem in die Kommunikation über Keramikimplantate. Jetzt kann jede Kollegin und jeder Kollege nachlesen und exakt erfahren, wie sie oder er dem Patienten gegenüber die Differenzialtherapie Keramik versus Titan wissenschaftsbasiert darstellen kann.
Einteilige Keramikimplantate werden in der Leitlinie als valides und einsatzreifes Therapieverfahren empfohlen. Warum ist es nicht möglich, diese Empfehlung auch für zweiteilige Implantate auszusprechen?
Grötz: Die Handlungsempfehlungen in Leitlinien basieren auf der Grundlage von Evidenz und Empirie. Wenn man keine Empirie, also keine Erfahrungswerte hat, muss man vorrangig die Evidenz, also die Studienlage in der Literatur, betrachten. Das Letztere ist bei Keramikimplantaten der Fall: im Gegensatz zu Titanimplantaten, können wir bei Keramikimplantaten nicht auf eine jahrzehntelange klinische Erfahrung zurückblicken. Für einteilige Keramikimplantate ist die Evidenz so klar, dass die Experten daraus eine belastbare Empfehlung für die Leitlinie generieren und aussprechen konnten. Bei zweiteiligen Keramikimplantaten ist das noch nicht der Fall. Der markante Unterschied zwischen den beiden Designs besteht darin, dass der Implantatkörper bei einteiligen Implantaten aus Implantat und Abutment in einem besteht und deshalb viel robuster ist als bei zweiteiligen. Bei zweiteiligen befindet sich die Ankopplung des Abutments – wie bei den meisten Titanimplantaten – auf dem Niveau des Implantathalses. Hier besteht die problematische Situation, dass Verschraubungen zum Einsatz kommen. Aktuell ist es ist nicht durch Studien belegt, dass diese Verbindungen in der langfristigen Kaubelastung von zwanzig Jahren oder länger die gleiche Sicherheit haben wie Titanimplantate oder einteilige Keramikimplantate. Sollte sich unser Erkenntnishorizont in dieser Hinsicht erweitern, wird die Leitlinie entsprechend aktualisiert.
Periimplantitis ist die Hauptursache für das Scheitern eines Implantats. In-vitro-Daten deuten darauf hin, dass die Plaqueanhaftung bei Keramik geringer ist und damit auch weniger Bakterien eindringen können. Könnte Keramik die Lösung für die
Periimplantitisproblematik sein?
Grötz: Es könnte die Lösung sein, aber ich kann dazu keine definitive Aussage treffen, weil uns klinische Daten noch fehlen. In-vitro-Daten sind erste Anhaltspunkte, um überhaupt zu wissen, in welche Richtung es gehen könnte. Aber diese können nicht als Basis einer Leitlinie herangezogen werden, sondern es müssen am Patienten gewonnene Erkenntnisse sein. Handlungsempfehlungen kann man nur aus Studien ableiten, die im besten Fall vergleichend im Hinblick auf Methodik und Vorgehen sind.
Bei der Diskussion über das Periimplantitisrisiko werden verschiedene Bestimmungsgrößen genannt. Welcher Index ist aus Ihrer Sicht aussagekräftiger der Plaque Index (PI) oder Bleeding on Probing (BOP)?
Grötz: Der Blutungsindex (BOP) ist der deutlich sensiblere, weil damit das Kardinalsymptom einer Entzündung erfasst wird, nämlich die Hyperämie. Diese Mehrdurchblutung basiert auf der Tatsache, dass der Organismus durch den Mehrtransport von Antikörpern und Abwehrzellen versucht, die Entzündung zu bekämpfen. Die Rötung (Rubor) ist nur das Symptom der Hyperämie. Und weil wir nicht in die Tasche schauen können, aber mit einer Sondierungssonde eine Blutung auslösen können, haben wir damit ein sehr sicheres klinisches Zeichen für eine Infektion am Implantat.
Warum wird in der Leitlinie bei Empfehlung 4 zur Plaqueakkumulation von einem hohen Level von Evidenz gesprochen, aber dann doch keine evidenzbasierte Aussage zur Therapieempfehlung getroffen?
Grötz: Ich möchte das anhand einer Metapher erklären. Wenn ich die Hypothese aufstelle, dass in einem Wald eine Hütte steht und ich mit einer einzigen hoch-qualitativen Taschenlampe hineinleuchte, dann aber keine Hütte sehe, kann ich nicht sagen, ob dort eine Hütte steht oder nicht. Sondern ich kann nur sagen, dass ich auf höchstem Qualitätsgrad eine Untersuchung gemacht habe, zu der ich aber keine abschließende Aussage treffen kann. So ist es bei der Evidenz zur Plaqueakkumulation. Und deshalb muss die Aussage der geminderten Plaqueakkumulation bei Keramikimplantaten als nicht belegt angesehen werden. Wenn aber plötzlich viele Taschenlampen in den Wald leuchten, um in der Metapher zu bleiben, dann ist die Qualität der Untersuchung immer noch sehr gut und die gewonnene Information wird durch die Vielzahl der Ergebnisse belastbarer. Damit wächst die Gewissheit, dass tatsächlich eine Hütte im Wald steht oder nicht – als Metapher.
Warum wird die Materialfrage beim Implantat oft so emotional geführt und fast zu einer Glaubensfrage stilisiert?
Grötz: Ich denke, das ist unserem sensibilisierten Zeitgeist geschuldet. Wir nehmen heute die Konfrontation mit Umweltgiften anders wahr als noch vor einigen Jahrzehnten. Von der Behauptung, metallfreies Leben sei gesünder, lassen sich viele Menschen überzeugen, weil sie das als plausibel empfinden. Allerdings gibt es für diese Behauptung nicht den Hauch eines wissenschaftlichen Belegs – im Gegenteil: Metalle gehören zum gesunden Leben, wie beispielsweise Eisen für unser Hämoglobin oder Kupfer für unsere Immunreaktion.
Ich möchte damit aber nicht in Abrede stellen, dass es berechtigt ist, zu fragen, ob ein etablierter Werkstoff noch zeitgemäß ist. Es gibt Metallunverträglichkeiten, für die es leider noch keine prädiktiven Tests gibt. Wir können daher nicht den Standpunkt einnehmen, Titan sei ein perfekter Werkstoff für alle Zeit. Und das öffnet das Feld für Vermutungen und Neigungen. Ob das Plädoyer für den einen oder anderen Standpunkt wissenschaftlich gerechtfertigt ist, beantwortet die Leitlinie. Sie ergibt, dass die langfristige Materialverträglichkeit bei Keramik noch nicht ausreichend untersucht ist. Bei Titan gibt es hingegen viele Daten, die belegen, dass es über Jahrzehnten von vielen Menschen gut vertragen wird. Ähnlich wie beim Werkstoff Amalgam, besteht das Risiko, dass die Diskussion Keramik oder Titan aufgrund von Überzeugungen und nicht von Wissen geführt wird. Hier soll unsere aktuelle Leitlinie helfen, den richten Behandlungsweg zu finden.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Empfehlungen der S3-Leitlinie zu Keramikimplantaten im Wortlaut
1. Evidenzbasierte Empfehlung: Einteilige Keramikimplantate
„Kommerziell erhältliche einteilige Keramikimplantate auf Zirkoniumdioxidbasis, deren Erfolgs- und Überlebensraten in wissenschaftlichen Studien positiv bewertet wurden, sind ein valides und einsatzreifes Therapieverfahren und können als alternative Therapieoption empfohlen werden.“
Abstimmung: 43/0/2 (ja, nein, Enthaltung)
Level of Evidence: Hohe Qualität 1++
2. Evidenzbasierte Empfehlung: Zweiteilige Keramikimplantate
„Kommerziell erhältliche zweiteilige Keramikimplantate auf Zirkoniumdioxidbasis können wegen der unklaren Datenlage nur nach eingehender Aufklärung (Langzeitstabilität der prothetischen Ankopplung) des Patienten als alternative Therapieoption zum Ersatz fehlender Zähne empfohlen werden.“
Abstimmung: 30/11/4 (ja, nein, Enthaltung)
Level of Evidence: Annehmbar 1+
Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz
ist Klinikdirektor für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie an den Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken in Wiesbaden und führt mit Kollegen die MKG-Tagesklinik Burgstraße.
Nach dem Studium und der Promotion in Human- und Zahnmedizin an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz wurde Prof. Grötz 1991 Zahnarzt für Oralchirurgie und 1995 Facharzt für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie. Er führt Zusatzbezeichnungen in Homöopathie (1997) und Plastische Operationen (1999) sowie die zertifizierten Tätigkeitsschwerpunkte (TSP) Implantologie (2001) und Funktionsdiagnostik/-therapie (2004).
Die Habilitation, Venia legendi und Priv.-Dozentur der Universität Mainz erlangte er im Jahr 1999, sechs Jahr später wurde ihm eine außerplanmäßige Professur verliehen. Seit 2002 ist Prof. Grötz Referent der Konsensuskonferenz Implantologie von BDZI, DGMKG, BDO, DGI, DGZI. Er hat mehrere wissenschaftliche Preise gewonnen und ist ITI-Fellow. Von 2018 bis 2021 war Prof. Grötz Präsident der Deutschen Gesellschaft für Implantologie (DGI) und seit 2022 ist er Mitglied der Sachverständigenkommission beim IMPP: Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungs-
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