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Fortbildung weiterdenken, interdisziplinär handeln

Aachen, Oberbayern, Wiesbaden: Professor Dr. Dr. Knut A. Grötz (rechts unten) und Dr. Christian Hammächer (links unten) im Video-Gespräch mit Barbara Ritzert (ProScience Communications) und dzw-Mitarbeiter Dr. Jan H. Koch.

Auch im Krisenjahr 2020 hat die Deutsche Gesellschaft für Implantologie (DGI) ihr Fortbildungsprogramm in weiten Teilen aufrechterhalten. Schlusspunkt war ein Online-Kongress mit herausragenden praxisbezogenen und wissenschaftlichen Inhalten. DGI-Präsident Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz (Wiesbaden) und Fortbildungsreferent Dr. Christian Hammächer (Aachen) erklären im Online-Interview mit Dr. Jan H. Koch, wie aus ihrer Sicht orale Implantologie und Medizin fit für die Zukunft gemacht werden können. Dabei geht es auch um ein neues mehrstufiges Qualifizierungskonzept, Lehrpraxen und Fortbildung in Zeiten von Covid-19.

Am diesjährigen DGI-Kongress wird auch die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) beteiligt sein. Wie weit ist die Zahnmedizin auf dem Weg zur Oralmedizin als vollwertige ärztliche Disziplin?
Grötz: Wir sind, trotz aller Probleme bei den neuen Approbationsordnungen, auf einem guten Weg. So wird unser Fachgebiet Implantologie inzwischen von einigen anderen medizinischen Disziplinen sehr gut wahrgenommen. Zwei Beispiele: Bei einer Online-Tagung des wissenschaftlichen Dachverbands Osteologie (DVO) wurde mein Vortrag zur Prognose oraler Implantate mit viel Interesse aufgenommen. Das war eines von drei Themen. Die beiden anderen waren MKG-chirurgische Versorgungskonzepte und Frakturversorgung beim Osteoporosepatienten.

„Zusammenwachsen mit übriger Medizin geht über Inhalte“

Und vielleicht noch wichtiger: Die nicht-operativ arbeitenden Kolleginnen und Kollegen der DGIM werden am ersten Advent dieses Jahres unseren DGI-Kongress und den damit verknüpften Deutschen Implantologentag mitgestalten. Dabei geht es zum Beispiel um die Themen Bakteriämie-Risiko oder um Endokarditis infolge einer Periimplantitis. Weitere gemeinsame Schwerpunkte sind immunologische Reaktionen und Materialunverträglichkeiten. Kurz: das Zusammenwachsen mit anderen Disziplinen der Medizin funktioniert primär über Inhalte.

Zurück zur „Zahn“-Medizin: Wie lässt sich orale Implantologie besser in die Aus- und Fortbildung integrieren?
Grötz:
Inhalte der Implantologie sind im Nationalen Lernzielkatalog für das Zahnmedizinstudium gut repräsentiert. Mit der vollumfänglichen Approbation darf entsprechend jede Zahnärztin und jeder Zahnarzt in dieser Teildisziplin arbeiten. Das Studium ist aber zeitlich begrenzt. Damit Implantologie auf einem guten Niveau praktiziert wird, ist daher eine postgraduale Weiterqualifizierung notwendig. Dafür steht unter anderem die DGI mit ihrem Fortbildungsprogramm zur Verfügung.
Hammächer: Unsere Aktivitäten beginnen bereits im Studium. Im Rahmen des so genannten Elektivums Implantologie arbeiten wir mit mehreren Universitäten zusammen, darunter Aachen, Freiburg, Kiel und die Berliner Charité. Fachseminare, die auf unser Curriculum angerechnet werden, führen die Studierenden auf diese Weise möglichst früh an die Implantologie heran.

Wie begegnet die DGI dem Problem mangelnder praktischer Fortbildungsinhalte am Patienten? Stichwort Haken halten.
Hammächer
: Ein Ansatzpunkt ist das von uns aufgelegte Mentorenprogramm. Viele unserer Experten begleiten Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Curriculums und bieten Hospitationen und Supervisionen an. Die Mentorinnen und Mentoren begleiten ihre Mentees bei der Implementierung der Implantologie in die Praxis, sie unterstützen bei Fallplanungen und den Prüfungsvorbereitungen und bieten Supervisionen an. Das Programm wurde zunächst nur schleppend angenommen, sicher zum Teil aufgrund der Pandemie. Allerdings arbeiten viele Kolleginnen und Kollegen in größeren Praxen, in denen sie bereits betreut werden. Perspektivisch wären Langzeitfamulaturen in spezialisierten Praxen oder auch akademische Lehrpraxen und -kliniken denkbar. In anderen medizinischen Fachbereichen sind solche Konzepte ja schon etabliert. Die DGI bleibt bei diesem Thema aktiv.

Das neue Qualifikationssystem der DGI wird dreistufig sein, vom Curriculum-Absolventen mit fünf dokumentierten Fällen bis zum Experten mit mindestens 200 gesetzten Implantaten. Wie wollen Sie diese Abstufung gegenüber Patienten kommunizieren?
Grötz:
Da sehe ich keine großen Probleme. Auch andere Fachgesellschaften haben mehrstufige Qualifikationen, etwa die Deutsche Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (DEGUM). Deren Stufung ist im Bereich der pränatalen Diagnostik den meisten Schwangeren absolut geläufig. Wir sind sicher, dass dies mit entsprechender Kommunikation auch in der oralen Implantologie funktionieren kann. Schon heute können sich Patientinnen und Patienten auf unserer Website informieren, was sich hinter dem Curriculum Implantologie oder dem Tätigkeitsschwerpunkt verbirgt. Auch die Medien greifen diese Hinweise regelmäßig auf.
Nicht zuletzt informieren die meisten unserer Mitglieder über ihre Qualifikation auf ihren Praxisseiten, die von Patienten bekanntlich aufmerksam studiert werden. Wir stellen uns vor, dass das neue System für alle Interessierten zu einem Begriff wird. Das gelingt natürlich nur ein einem Prozess, den wir sanft und nachhaltig implementieren wollen, nicht mit großem Trara.
Übrigens war die Differenzierung vor allem der Wunsch unserer implantierenden Kollegen, die immer wieder nach einer zusätzlichen Qualifikationsstufe gefragt haben. Diese etablieren wir jetzt mit zweijähriger Erfahrung und 100 Implantaten zwischen Curriculum und Tätigkeitsschwerpunkt. Perspektivisch können wir uns eine weitere Stufe für Experten auf dem höchsten wissenschaftlichen und praktischen Niveau vorstellen, ähnlich den postgraduierten Spezialisten in anderen Teilgebieten. Wichtiger als die Zahl der gesetzten Implantate, ist übrigens eine interdisziplinäre Denkweise und die Fähigkeit, einen Fall diagnosegerecht einzuschätzen.

„Wir haben auf die Pandemie kreativ und flexibel reagiert“

Wie hat die DGI das Coronajahr 2020 erlebt? Ist das Fortbildungsprogramm zusammengebrochen?
Hammächer
: Nein, insgesamt ist das klasse gelaufen. Wir haben mit Präsenz-, Hybrid- und Online-Veranstaltungen kreativ und flexibel reagiert und das wurde entsprechend gut angenommen. Aufgrund der aktuellen Situation werden wir nach Möglichkeit auch weiterhin verschiedene Optionen anbieten. Unser DGI-Special zum Thema Knochenregeneration findet mit herausragenden Experten und Workshops am 8. Mai am Frankfurter Flughafen als Hybridveranstaltung statt. Mein eigenes implantatprothetisches Curriculum-Modul im Mai in Aachen wird hoffentlich in Präsenz stattfinden. Aber ich habe schon Päckchen vorbereitet, damit ich die praktischen Übungen bei Bedarf auch im Online-Modus betreuen kann.
Grötz: Hands-on-Übungen in einem Online-Kurs sind sicher auch möglich, jedoch nicht in allen Fällen. Unser Modul Augmentation II mit 24 Teilnehmern haben wir im vergangenen Jahr zu zweit in Präsenz betreut. Bei Blocktransplantationen, die am Schweinekiefer geübt werden, muss ich zum Beispiel Hinweise geben, in welchem Winkel das Handstück beim Verschrauben gehalten werden sollte – und dabei Kursteilnehmern auch mal die Hand führen. Das geht online nicht.
Hammächer: Hinweisen möchten wir auch auf unsere Curricula in den Bereichen Zahntechnik und implantologische Assistenz. Für letztere haben wir sogar zwei Curricula im Angebot, eines für die chirurgischen und organisatorischen Grundlagen mit fünf Modulen und eines für die periimplantäre Nachsorge. Beim zweiten geht es um professionelle Betreuung von Implantatpatienten, kurz PBI.
Grötz: Die zwei Module des PBI-Curriculums finden an einem Wochenende statt. Um die Inhalte optimal zu strukturieren, streben wir eine Zusammenarbeit mit der DGParo an. Die ist hier sehr gut aufgestellt und wir binden zugleich die DH-Verbände ein. Im Bereich des strukturierten Recalls haben viele implantologisch ausgerichtete Praxen noch Nachholbedarf. DHs oder ZMPs müssen zum Beispiel einschätzen können, wann in einer Recall-Sitzung bei kompromittierten Patienten mit Sondierungsblutungen eine Zahnärztin oder ein Zahnarzt hinzugezogen werden muss. Ein neues, sehr aktuelles Thema sind Maßnahmen zur Infektionsvermeidung.  Wir sehen die Pandemie auch als Chance, didaktische Inhalte zu erweitern.

Neues Thema, Leitlinien: In Bezug auf die höchste Evidenzstufe S3 können Fachgesellschaften aus ZMK-Heilkunde und MKG-Chirurgie erfreulicherweise sehr gut mit der übrigen Medizin mithalten. Bei diagnosebezogenen Leitlinien, zum Beispiel zur Versorgung von Freiendsituationen, gibt es aber Nachholbedarf.
Grötz:
Leitlinien müssen bedarfsorientiert sein und es ist immer abzuwägen, ob ein diagnostischer oder therapeutischer Bezug sinnvoller ist. Die unter DGI-Federführung publizierten Leitlinien zu kompromittierten Patientengruppen, zum Beispiel Diabetes mellitus, liefern implantierenden Kolleginnen und Kollegen praktisch verwertbare Informationen zu klar definierten Fragestellungen. Auch Freiendsituationen oder andere Indikationsklassen sind relevante Themen, die wir sicherlich noch aufgreifen werden. Bereits bearbeitet sind der zahnlose Oberkiefer und Zahnnichtanlagen.
Getreu der AWMF-Vorgabe ist an einer Leitlinie neben der federführenden Fachgesellschaft stets eine Gruppe weiterer wissenschaftlicher Gesellschaften und Organisationen beteiligt, die ihre Expertise einbringen. Dieses Vorgehen soll gute Handlungsempfehlungen sicherstellen. Es ist auch keine Seltenheit, dass Leitlinien unter der gemeinsamen Federführung von zwei Fachgesellschaften entwickelt werden. Entsprechend stehen wir zum Beispiel in engem Austausch mit der DGParo, aktuell für das übernächste Update der Periimplantitis-Leitlinie. 
Um zu Ihrer Ausgangsfrage zur medizinischen Integration zurückzukommen: Eine Journalistin, die für die Mitgliederzeitschrift der Patientenorganisation Deutsche Rheuma-Liga schreibt, fand unlängst über die AWMF-Suche unsere Leitlinie zu Implantaten bei Patienten mit Immundefizienz. In einem Interview habe ich daraufhin unter anderem die implantologischen Ausnahme-Indikationen Xerostomie und Sjögren-Syndrom erläutert, die für diese Patienten sehr relevant sein können. Ich denke, wir sind hier an einem Punkt, wo wir die orale Medizin und Implantologie als Teil der Gesamtmedizin etablieren können.

Dr. Jan H. Koch, Freising