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Warten auf den Neustart

Platine mit Jahreszahl 2022

Auch zum Start des Jahres 2022 läuft bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens noch nicht alles rund.

Das Jahr 2022 hat zumindest mit etwas Entschleunigung begonnen. Der Start des E-Rezeptes wurde trotz des gesetzlich festgelegten Starttermins am 1. Januar 2022 erst einmal unbestimmt verschoben. Oder, um es im Gematik-Schönsprech zu formulieren, die bundesweite Testphase wurde verlängert.

Verzögerung bei E-Rezept und elektronischer Patientenakte

Im gemeinsamen Koalitionsvertrag hatten sich die Ampelpartner noch in Spahnscher Schmissigkeit geprobt: „Wir beschleunigen die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) und des E-Rezeptes sowie deren nutzenbringende Anwendung und binden beschleunigt sämtliche Akteure an die Telematikinfrastruktur an.“

Doch jetzt hat sich offenkundig die Erkenntnis durchgesetzt, dass gepredigtes Tempo und die Einführung praxistauglicher digitaler Anwendungen wie Wunsch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Gerade für einen so komplexen Prozess von Rezeptverschreibung über den Rezeptempfang beim Patienten bis hin zur Abrechnung reicht ein Feldtestchen in Berlin/Brandenburg nicht aus. Auch die im Dezember 2021 von der Gematik noch rasch ausgelobte bundesweite Testphase, die bis heute nicht ausgewertet scheint, war wenig hilfreich für einen Digitalisierungsprozess, der künftig zum Praxisalltag gehören soll wie das Praxisschild.

Bis Dezember 2021 hatten lediglich zwei Krankenkassen und vier Praxisverwaltungssysteme an der Testphase teilgenommen. Laut KBV wurde die gesamte Prozesskette kein einziges Mal zusammenhängend getestet. Krankenhäuser, Arzt- und Zahnarztpraxen, Apotheken, Krankenkassen – die Zahl der genutzten Softwarelösungen ist immens und sie alle sollten diese Testphase durchlaufen haben, bevor das E-Rezept Alltag wird. Gesetzliche Fristen hin oder her.

BMG in der Realität angekommen

Die Erleichterung über die Verschiebung ist auf allen Seiten der Gematik-Minderheitsgesellschafter groß. „Besser spät als nie! Wir begrüßen die richtige Einsicht des Mehrheitsgesellschafters BMG außerordentlich“, lässt sich der stellvertretende KZBV-Vorstandsvorsitzende Dr. Karl-Georg Pochhammer zitieren und nennt diese Verschiebung eine „Notbremse“. „Es ist richtig, dass das Bundesgesundheitsministerium den Fakten Rechnung trägt und die Testphase für das E-Rezept verlängert hat“, erklärte auch Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV. Dass das BMG nun schon für die Anerkennung von Fakten gelobt werden muss, hinterlässt einen breiten Deutungsspielraum über vier Jahre Jens Spahn. Auch Thomas Dittrich, Vorsitzender des Deutschen Apothekerbundes, konstatiert nüchtern: „Betrachtet man den kompletten Prozess von der Verordnung über die Einlösung und Quittierung bis hin zur Abrechnung des E-Rezeptes, dann gibt es noch erhebliche technische Probleme.“

Bei einem so verheerenden Sachverhalt stellt sich schon die Frage, wie es zu so viel ministerieller Realitätsferne kommen konnte, bis kurz vor Jahreswechsel auf eine Umsetzung der Einführungsfrist zu bestehen. Hybris? Selbstvermarktungsqualitäten der Gematik? Hinter-mir-die-Sintflut eines scheidenden Ministers?

Es bleibt spannend, welche verborgenen Schätzchen unter Minister Prof. Dr. Karl Lauterbach noch so ans Licht kommen.

Elektronische Patientenakte floppt bislang

Auch bei der elektronischen Patientenakte (ePA) lassen die Erfolgsmeldungen noch auf sich warten. Bislang viel heiße Luft. Zwar wird sie seit dem 1. Januar 2021 von den Krankenkassen angeboten, doch wird sie von den Versicherten bislang kaum nachgefragt. Laut aktueller Bitkom-Umfrage ist sie erst bei 0,5 Prozent der Versicherten in Gebrauch.

Zu Beginn dieses Jahres sollten die ersten „medizinischen Informationsobjekte“ (MIO) Schwung und echten Nutzen in die ePA bringen: Impfpass, zahnärztliches Bonusheft, Mutterpass und Kinder-Untersuchungsheft. Doch bis dahin scheint noch ein weiter Weg. „Die Hersteller haben es noch nicht geschafft, die Lösungen dafür umzusetzen. Da muss man im Hinblick auf den Koalitionsvertrag sagen: Wenn die neue Regierung die elektronische Patientenakte stark pushen will, muss technisch noch viel passieren“, gibt KBV-Vorstandsmitglied Dr. Thomas Kriedel im „änd“-Interview zu bedenken. Auch haben einige Praxissoftware-Hersteller derzeit noch ganz andere Probleme. Nach dem gravierenden Hackerangriff auf Medatixx folgte Ende letzten Jahren eine Cyberattacke auf die CGM.

Aber auch die ePA scheint weniger sicher als erwartet. Zum Jahreswechsel berichtete die „c’t“, dass es ihr gelungen sei, verbotene Dateiformate bei einer bestimmten Android-Version mit einem simplen Anhängen der Dateiendung .txt in die ePA der TK hoch und wiederherunterzuladen. Die Sicherheitslücke ist jetzt geschlossen.

Die neue Bundesregierung plant laut Koalitionsvertrag auch eine neue strategische Ausrichtung beim Rollout der ePA. Basierte die „Freiwilligkeit“ der Nutzung der ePA bislang auf einem Opt-in-Modell – hierbei entscheiden sich die Versicherten individuell freiwillig für die Nutzung –, soll künftig ein Opt-out-Modell gelten. „Alle Versicherten bekommen DSGVO-konform eine ePA zur Verfügung gestellt; ihre Nutzung ist freiwillig (opt-out)“, heißt es im Koalitionsvertrag. Die Versicherten können sich also freiwillig für eine Nichtnutzung der ePA entscheiden. Euphorie wird auch das nicht auslösen.

Rund läuft es nicht. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens hierzulande hat auch in diesem Jahr noch ganz viel Entwicklungspotenzial. Auf ein Neues.