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MIH: Neue Erkenntnisse aus der Kinderzahnheilkunde

Oberärztin Dr. Maria Giraki gab auf dem diesjährigen Deutschen Zahnärztetag in Frankfurt einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zur MIH.

Oberärztin Dr. Maria Giraki gab auf dem diesjährigen Deutschen Zahnärztetag in Frankfurt einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zur MIH.

Was heißt MIH? Wie häufig kommt das Krankheitsbild vor? Ist es eine neue Volkskrankheit für Kinder? Was ist die Ursache für das klinische Problem? Wie erkennt man MIH? Und schließlich: Was muss man während der MIH-Therapie beachten? – Mithilfe dieser fünf Fragen strukturierte OÄ Dr. Maria Giraki vom Zentrum der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (Carolinum) der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main (Poliklinik für Zahnerhaltungskunde) ihren Vortrag zum Thema Molaren-InzisivenHypomineralisation (MIH), den sie auf dem Deutschen Zahnärztetag 2017 an das Praxisteam richtete.

Ihr Ziel war es, einen Gesamtüberblick über das Thema zu geben, den aktuellen Forschungsstand vorzustellen sowie die Teilnehmer dafür zu sensibilisieren, wie entscheidend in Anbetracht der zunehmenden epidemiologi­schen Bedeutung des Krankheitsbildes die richtige Früherkennung und Therapie sind.

„Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation ist ein Wort, bei dem man aufpassen muss, sich nicht zu verhaspeln“, sagte Dr. Giraki zu Beginn ihres Vortrags und betonte, dass die als Kreidezähne oder auch „Käse-Molaren“ („Cheese Molars“) bezeichneten MIH-Zähne zum Alptraum vieler Eltern werden. Denn die MIH-Zähne zeichnen sich, abhängig vom Schweregrad, nicht nur durch einen Verlust der Zahnhartsubstanz und ein erhöhtes Kariesrisiko, sondern auch durch eine hohe Empfindlichkeit (Temperatur, Berührung) und oftmals schlechte Anästhesierbarkeit aus. Gerade gelbliche bis bräunliche Opazitäten, die dabei auftreten können, sind im Frontzahnbereich auch eine ästhetische Belastung. Wenn Kinderzähne trotz guter Pflege bröckeln und vergilben, fühlen sich viele Eltern ratlos.

Genese

Die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation wurde wissenschaftlich erstmals 1987 von einer schwedischen Arbeitsgruppe als eigenständiges Krankheitsbild beschrieben, die bei um 1970 geborenen Kindern vermehrt das Auftreten von „idiopathischen Schmelzhypomineralisationen“ an ersten bleibenden Molaren und Inzisiven beobachtete. Doch erst 2001 wurde eine klare Definition festgelegt, die besagt, dass die MIH ein „sys­temisch bedingten qualitativer Schmelzdefekt ist, der mindestens einen ersten bleibenden Molaren und optional die bleibenden Inzisiven betrifft“. 2003 wurden die diagnostischen Kriterien definiert und erst vor sieben Jahren die ersten klinischen Therapieempfehlungen herausgegeben.

Es wurde beobachtet, dass die ers­ten Anzeichen für MIH häufig bereits im Milchgebiss auftreten, denn bei Vorliegen von Hypomineralisationen des zweiten Milchmolaren scheint die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer MIH im bleibenden Gebiss erhöht zu sein. Daher wurde die Definition der MIH um die Definition der „Milchmolaren-Hypomineralisation“ (MMH) beziehungsweise „deciduous molar hypomineralisation“ (DMH) ergänzt.

Dabei ist die MIH keinen erst aktuell auftretenden Defekt. Bekannt ist beispielsweise ein Londonder Zähnefund aus dem 17./18. Jahrhundert, der MIH-ähnliche Veränderungen aufweist. Allerdings wird MIH heutzutage immer häufiger beobachtet und gewinnt als Krankheitsbild zunehmend an Bedeutung. Zahlreiche Studien belegen, dass MIH weltweit vorkommt. In Brasilien und Dänemark wurden beispielsweise sehr viele MIH-Fälle registriert, während China eine eher geringe Häufigkeit aufweist. In Europa beträgt die Prävalenz im Durchschnitt etwa 10 Prozent, in Deutschland liegen die Werte ähnlich hoch und schwanken abhängig von der Region: In deutschen Großstädten ist das Vorkommen tendenziell höher als in ländlichen Regionen. Allerdings leidet hierzulande bereits heute jedes zehnte Kind an MIH. Die Ergebnisse der aktuellen fünften Deutschen Mundgesundheitsstudie sprechen sogar von etwa jedem vierten Kind

Ätiologie

Die MIH-Ätiologie ist trotz zahlreicher Untersuchungen mit zum Teil kontroversen Ergebnissen nach wie vor unklar. In der Forschung werden sowohl prä- als auch peri- und postnatale Einflüsse diskutiert. So könnten gesundheitliche Probleme der Mutter vor allem im letzten Schwangerschaftsdrittel eine Rolle spielen, ähnlich wie perinataler Sauerstoffmangel, Frühgeburt, Kaiserschnitt sowie Komplikationen bei einer vaginalen Entbindung.

Postnatal, so die Forschung, könn­ten sich vor allem Atemwegserkrankungen wie Bronchitis, Asthma, aber auch Infektionskrankheiten sowie gehäufte Medikamenteneinnahmen in den ersten Lebensjahren (Antibiotika, Aerosoltherapie) auf die Schmelzbildung beziehungsweise -reifung auswirken. Störungen im Mineralhaushalt insbesondere des für die Zahnentwicklung wichtigen Kalzium-Phosphat-Haushalts durch beispielsweise chronische Nierenerkrankungen sind ebenfalls als mögliche ätiologische Faktoren im Gespräch. Darüber hinaus werden Umwelttoxine, darunter vor allem Inhaltsstoffe von Kunststoffen (Bisphenol A, Polychloriertes Biphenyl), als mögliche Ursachen für die Schmelzdefekte intensiv diskutiert.

„Bisher gibt es keinen eindeutigen Beweis dafür, dass Antibiotika wie Amocixillin MIH begünstigen“, so Dr. Giraki. Ein im Tierversuch festgestellter Zusammenhang zwischen Bisphenol A (BPA) und MIH-ähnlichen Zahndefekten bei Ratten sei aber ein interessanter Hinweis darauf, dass BPA ein möglicher Faktor bei der Entstehung von MIH sein könnte. In puncto Fluoride sei in den meisten Studien ebenfalls kein Zusammenhang belegt worden. Daher appellierte Dr. Giraki ausdrücklich an die Teilnehmer, Fluoride entsprechend der aktuellen Leitlinie („Fluoridierungsmaßnahmen zur Kariesprophylaxe“) der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) für die häusliche Anwendung weiterzuempfehlen. Dr. Giraki empfiehlt insbesondere, zweimal täglich eine fluoridierte Zahnpasta (mindestens 1.000 ppm) einzusetzen, bei im Durchbruch befindlichen Molaren die Querputztechnik anzuwenden und einmal wöchentlich ein Fluoridgel (12.500 ppm) mittels Schiene oder Einbürsten zu applizieren. Hinzu kommt die tägliche Verwendung von fluoridiertem Speisesalz bei der Zubereitung von Mahlzeiten.

„Die Suche nach MIH-Ursachen ist fast wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen“, resümierte Dr. Giraki. „Wahrscheinlich“, so die Expertin, „handelt es sich um ein unglückliches Zusammentreffen mehrerer Faktoren.“ Da die genauen Ursachen noch nicht eindeutig erforscht sind, sei der Forschungsbedarf nach wie vor groß.

Diagnostik

In der Diagnostik kann MIH mit anderen Schmelzbildungsstörungen verwechselt werden. Dazu zählen vor allem die Amelogenesis imperfecta (eine genetisch bedingte Dysplasie, von der alle Milch- und bleibenden Zähne betroffen sind) und die Fluorose (chronische Überfluoridierung). Auch müssen die Schmelzhypoplasie und die Tetracyclinverfärbung der Zähne sowie traumatisch bedingte Schmelzopazitäten von der MIH abgegrenzt werden.

Zu den von der European Academy of Paediatric Dentistry (EAPD) 2003 erstmals empfohlenen Kriterien zur Diagnose einer MIH zählen insbesondere die scharfe Begrenzung von Opazitäten, der posteruptive Zahnhartsubstanzverlust und das Vorhandensein atypischer Restaurationen.

Das günstigste Untersuchungsalter für die MIH-Diagnose beträgt etwa acht Jahre, da dann in der Regel alle vier Molaren und Inzisiven durchgebrochen sind. Später besteht die Gefahr einer Maskierung der MIH durch Karies oder zahnfarbene Restaurationen, wobei verbliebene Opazitäten an Füllungsrändern oftmals einen MIH-Zahn als solchen entlarven. Der Ausprägungsgrad der MIH kann dabei eine milde bis schwere Form annehmen.

 

„Die MIH stellt einen entwicklungsbedingten Defekt eines oder mehrerer bleibender Molaren mit oder ohne Beteiligung der Frontzähne dar. Wenn Sie also scharf begrenzte Farbveränderungen an mindestens einem 6-er feststellen und eventuell zusätzlich an 1-ern und 2-ern beobachten, wird es sich sehr wahrscheinlich um die MIH handeln“, erklärte Dr. Giraki. Im zahnärztlichen Praxisalltag sei eine möglichst frühzeitige Diagnose schon während des Zahndurchbruchs, also bereits mit sechs Jahren, sinnvoll. Durch eine zunächst gegebenenfalls auch temporäre therapeutische Intervention könne man dann frühzeitig einen weiteren Substanzverlust vermeiden.

Therapie

Was können Zahnärzte und ZFA therapeutisch konkret tun? Lassen sich Kreidezähne heilen? Bei einer milden Ausprägung der MIH (ohne Zahnhartsubstanzverlust) sollte der Zahnarzt den betroffenen Zahn ähnlich wie einen gesunden, allerdings hoch kariesgefährdeten Zahn behandeln und ihn gegebenenfalls mit einer Fissurenversiegelung unter vorheriger Verwendung eines Adhäsivs versorgen. Zusätzlich sollte er bei regel­mäßigen Kontrollen im Abstand von etwa drei bis sechs Monaten bis zu viermal im Jahr einen hoch konzentrierten Fluoridlack (22.600 ppm) auftragen. Beides sind Maßnahmen, die primär der Kariesprophylaxe dienen.

Ist es bereits zu einem Verlust von Zahnhartsubstanz gekommen, wird der Zahnarzt, abhängig vom Durchbruchzustand des Zahns und dem Schweregrad des Defekts, eine Füllung aus einem zunächst temporären (zum Beispiel Glasionomerzement) oder direkt definitiven Füllungsmaterial (Komposit) beziehungsweise eine Teil- oder Vollüberkronung (wie konfektionierte Stahlkrone, individuell im Labor oder per CAD/CAM-Verfahren gefertigte Kompositkronen) des Zahns empfehlen. Amalgam ist zur Versorgung von MIH-Zähnen nicht geeignet. Vom Bleichen der verfärbten Zähne rät Dr. Giraki eher ab. In sehr schweren MIH-Fällen kann nach Absprache mit einem Kieferorthopäden auch die Entfernung des betroffenen Zahns mit anschließendem kieferorthopädischem Lückenschluss sinnvoll sein.

Dr. Giraki appelliert: „Wer in der Prophylaxe beziehungsweise Prävention Kinder betreut, sollte in puncto MIH unbedingt sensibilisiert sein und auf milchige sowie bräunliche Verfärbungen insbesondere der zweiten Milchmolaren achten.“ Betroffene MIH-Zähne solle man, abhängig vom Schweregrad, engmaschig kontrollieren. Bei schweren MIH-Formen kann ein Recall-Intervall von zwei bis drei Monaten notwendig sein. In jedem Fall sollten Schmerzsensationen vermieden und das Vertrauen der Kinder gewonnen werden. Daher sei es ratsam, bei Empfindlichkeit keinen „Luftpüster“ zu verwenden und gegebenenfalls nur mit Watterollen trockenzulegen. Bei der restaurativen Therapie kann zudem die Anwendung einer intraligamentären Anästhesie beziehungsweise der CIA-Technik (Crystal Intraosseous Approach) wie auch eine analgetische Prämedikation, die ein bis zwei Tage vor der Behandlung einsetzt, hilfreich sein.

Neuerdings konnte die Wirksamkeit einer Desensibilisierungspaste mit Pro-Argin-Technologie nachgewiesen werden: Diese war in der Lage, Überempfindlichkeiten wäh­rend der achtwöchigen Studiendauer zu reduzieren. Darüber hinaus kommt als weite­re non-invasive Option zur Behandlung milder Hypersensibilitäten die Applikation von casein-phosphopeptid-amorphem Kalziumphosphat (CPP-ACP) zur Anwendung. Insgesamt wird von Dr. Giraki eine minimalinvasive Vorgehensweise empfohlen, die neben präventiven und regenerativen Maßnahmen auch die Anwendung von Kompositen, Komposit-Onlays, Überkronungen und laborgefertigten Restaurationen beinhaltet. Und im Umgang mit den kleinen Patienten rät sie vor allem dazu, das Prinzip „Erklären-Zeigen-Tun“ zu verfolgen.

Die Kurzfassung der aktuellen Leitlinie „Fluoridierungsmaßnahmen zur Kariesprophylaxe“ der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) finden Sie hier.