Aktuell ist die Frage, wie man den Herausforderungen der Alterszahnmedizin begegnen kann, in aller Munde. Antworten darauf wird der Wittener Tag der Zahnmedizin am 22. September 2018 geben. Was die Teilnehmer dieser neuen Veranstaltungsreihe der Universität Witten/Herdecke erwartet und was die Universität im Bereich Alterszahnmedizin noch alles vorhat, berichtet Prof. Dr. Stefan Zimmer, Leiter des Departments für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, DZW-Redakteurin Evelyn Stolberg im Interview.
Herr Prof. Zimmer, die Universität Witten/Herdecke tritt im September mit einem neuen Veranstaltungsformat an. Was hat es mit dem „Wittener Tag der Zahnmedizin 2018“ auf sich?
Prof. Dr. Stefan Zimmer: Die neue Veranstaltungsreihe greift Themen auf, die den Berufsstand bewegen. Im Mittelpunkt des diesjährigen „Wittener Tags der Zahnmedizin“ steht deshalb die Alterszahnmedizin. Vormittags bieten wir Überblicksreferate zum Hauptthema an, nachmittags dann sechs verschiedene Vorträge und zwei Workshops, aus denen sich die Teilnehmer nach ihren persönlichen Interessen bis zu drei Veranstaltungen aussuchen können. Die Universität verfolgt mit diesem Konzept die Idee, den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen ein möglichst breites Spektrum ihrer Kompetenzen zur Verfügung zu stellen.
Warum haben Sie sich für das Leitthema Alterszahnmedizin entschieden?
Zimmer: Die Betreuung älterer, pflegebedürftiger Menschen wird die Zahnmedizin sicher noch in den nächsten 30 Jahren vor große Herausforderungen stellen. Ich spreche hier wirklich nur von der Personengruppe mit eingeschränkter Mobilität, nicht von den Patienten, die trotz fortgeschrittenen Alters noch rüstig genug sind, um eine Zahnarztpraxis aufsuchen zu können. Wir alle wissen, dass Deutschland einen demografischen Wandel vollzieht und die Alterspyramide mittlerweile auf dem Kopf steht. Schon heute gibt es in unserem Land drei Millionen Pflegebedürftige, die zahnmedizinisch nicht optimal betreut werden können. Das Problem wächst, und es gibt nicht für alle Fragestellungen überzeugende Konzepte. Hierbei denke ich insbesondere an die Patienten, die in der häuslichen Pflege untergebracht sind. Wir müssen dringend Lösungen anbieten und uns als Berufsstand überlegen, wie wir dieser Herausforderung gerecht werden können.
Im September wird Paragraf 22 a bereits einige Monate in Kraft sein. Erwarten Sie dadurch eine Zunahme bei den Kooperationsverträgen für die aufsuchende Betreuung?
Zimmer: Ich glaube, dass vor allen Dingen mehr Kooperationsverträge abgeschlossen werden, wenn wir die Kollegenschaft besser über die bereits jetzt vorhandenen Möglichkeiten aufklären und ihnen anhand von Praxisbeispielen zeigen, wie man einen Kooperationsvertrag mit Leben füllen kann. Viele Kollegen haben in Bezug auf die Alterszahnmedizin Berührungsängste. Sie glauben, dass die zahnmedizinische Versorgung Pflegebedürftiger unwirtschaftlich ist und nicht in den Praxisalltag integriert werden kann. Ich bin sicher, dass wir diese Befürchtungen zerstreuen können. Der Tag der Zahnmedizin in Witten wird dazu einen großen Beitrag leisten. Denn es werden Kollegen mit Kooperationsverträgen zu Wort kommen, die erklären, wie man sich entsprechend organisieren kann, damit sich der Einsatz am Ende des Tages rechnet. Paragraf 22 a ist definitiv ein weiterer Schritt in die richtige Richtung, aber die Bedingungen für Zahnmediziner sind auch jetzt schon nicht so schlecht.
Welche Rolle spielt die Alterszahnmedizin während des zahnmedizinischen Studiums an Ihrer Universität?
Zimmer: Wir bieten seit diesem Semester erstmals eine Vorlesungsreihe für Alterszahnmedizin an. Wie an vielen anderen Universitäten wurde dieser Bereich auch bei uns in der Vergangenheit eher stiefmütterlich abgedeckt. Das haben wir nun geändert, vor allem, weil die Alterszahnmedizin im Berufsleben der Kolleginnen und Kollegen, die sich jetzt in der Ausbildung befinden, eine große Rolle spielen wird.
In unserer Vorlesungsreihe geht es primär um den Umgang mit den Menschen in der Pflege, weil junge Menschen üblicherweise keine Erfahrung in diesem Bereich haben. Eingebunden haben wir deshalb Pflegewissenschaftler, Psychologen, Juristen und Geriater, aber auch Zahnärzte aus den Körperschaften und einen Kollegen, der sehr erfahren in der Betreuung von Pflegebedürftigen ist und mehrere Kooperationsverträge unterhält. Sie unterrichten die Studierenden etwa darin, wie sie die Behandlung eines Pflegebedürftigen strukturieren können und informieren sie über die Rahmenbedingungen und Möglichkeiten von Kooperationsverträgen. Auch die rechtlichen Aspekte werden aufgegriffen, weil Pflegebedürftige oft einen Vormund haben, der in die Behandlungsschritte eingebunden werden muss. Für das nächste Semester ist geplant, dass die Studierenden in einer Pflegeeinrichtung hospitieren. Und ein Semester später werden sie Zahnärzte begleiten, die Kooperationsverträge mit Altersheimen abgeschlossen haben.
Ist ein Lehrstuhl im Bereich Alterszahnmedizin an Ihrer Universität geplant?
Zimmer: Ja. Leider kann die Universität so einen Lehrstuhl nicht aus eigenen Mitteln finanzieren. Wir sind aktuell aber in Verhandlungen mit potenziellen Förderern und hoffen, bald eine Finanzierung nach dem Vorbild unseres Lehrstuhls für behindertenorientierte Zahnmedizin zu erhalten.
Wie gehen Sie als Universitätszahnklinik auf die Bedürfnisse von alten, pflegebedürftigen Menschen ein?
Zimmer: Im Augenblick behandeln wir nur Personen, die unsere Klinik selbst aufsuchen können. Wir streben jedoch an, eine aufsuchende Betreuung aufzubauen. Gerade als Einrichtung, die die Zahnmedizinstudenten in diesem Bereich ausbildet, ist für uns der nächste logische Schritt, Kooperationsverträge mit Pflegeeinrichtungen in der Umgebung abzuschließen, damit wir mit unseren Studierenden auch dorthin gehen können.
Hand aufs Herz – können die Zahnärzte den Bedarf im Bereich Alterszahnmedizin abdecken, oder ist dies noch ein weiter Weg?
Zimmer: Wenn Sie mich so fragen … Die Zahnärzteschaft kann den Bedarf abdecken, sie tut es im Moment aber noch nicht. Das kann man nach so einer kurzen Zeit aber auch nicht erwarten. Aktuell werden deutschlandweit etwa 25 Prozent der Pflegeeinrichtungen zahnmedizinisch betreut. Das bedeutet allerdings nicht, dass auch jeder Bewohner Zugang dazu erhält. Die Pflegekräfte müssen dies organisieren, und letztlich muss auch immer der Vormund zustimmen. Was die häusliche Pflege betrifft, brauchen wir vor allen Dingen enge Kooperationen mit den ambulanten Pflegeanbietern. Diesen Kontakt suchen wir aktuell, damit die Zahnärzteschaft die aufsuchende Betreuung auch in die Häuser bringen kann.
Was interessiert Sie – als Zahnmediziner und ganz persönlich – am Thema Seniorenzahnmedizin?
Zimmer: Als Zahnarzt, der an einer Universität arbeitet, versuche ich natürlich immer, den Blick für die Bedürfnisse in der zahnmedizinischen Versorgung zu haben, denn dafür bilden wir aus. Die Behandlung von pflegebedürftigen, immobilen Menschen ist ein wichtiges und wachsendes Betätigungsfeld für die Zahnärzteschaft. Das muss es auch sein, weil die Gesellschaft einen Anspruch darauf hat, dass die Zahnärzte sich um ihre Bedürfnisse kümmern.
Ich ganz persönlich habe natürlich im Hinterkopf, dass ich im fortgeschrittenen Alter in die Situation kommen kann, in der ich Hilfe benötigen werde. Auch das motiviert mich, nach Möglichkeiten zu suchen, das Angebot der zahnmedizinischen Betreuung für Pflegebedürftige weiter aufzubauen.
Wittener Tag der Zahnmedizin 2018
Am 22. September 2018 beginnt die neue Veranstaltungsreihe „Wittener Tag der Zahnmedizin“, den die Universität Witten/Herdecke ins Leben gerufen hat. Das Leitthema ist die Alterszahnmedizin. Weitere Informationen sowie Möglichkeiten zur Anmeldung gibt es unter www.uni-wh.de/tdzm. Die Teilnehmer erhalten 9 Fortbildungspunkte. Als Einstimmung bietet die DZW online eine umfangreiche Artikelserie zum Thema Seniorenzahnmedizin: bit.ly/2nodlDU
Paragraf 22a SGB V
Am 1. Juli 2018 tritt Paragraf 22a SGB V in Kraft. Erstmals haben Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderungen dann einen verbindlichen Rechtsanspruch auf zusätzliche zahnärztliche Vorsorgemaßnahmen im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung. Die neue Richtlinie regelt auf der Grundlage nach Paragraf 92 Absatz 1 Nr. 2 SGB V in Verbindung mit Paragraf 22a SGB V Art und Umfang der zahnärztlichen Leistungen zur Verhütung von Zahnerkrankungen bei Versicherten, die einem Pflegegrad nach Paragraf 15 des Elften Buches Sozialgesetzbuch zugeordnet sind oder Eingliederungshilfe nach Paragraf 53 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch erhalten. Versorgungsziel ist beispielsweise der Erhalt und die Verbesserung der Mundgesundheit einschließlich des Mund- und Prothesenhygienestandards und damit eine Verbesserung der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität.