Mikrobiomforschung in Zusammenhang mit Entstehung und Vermeidung von Krankheiten rückt immer mehr in die medizinische Praxis. Der Begriff „Mikrobiom“ wurde von dem Molekularbiologen J. Lederberg geprägt. Seit 2008 wird am National Institute of Dental and Craniofacial Research das orale Mikrobiom analysiert und abgebildet. Es ist mit seinen unterschiedlichen Spezies von Bakterien, Hefen, Pilzen, Viren und sogar Protozoen nach dem Ökosystem unseres Darmes die wohl artenreichste mikrobielle Biozönose des menschlichen Körpers.
Das orale Mikrobiom beinhaltet fünf große Bakterienstämme: Firmicutes, Proteobactera, Bacteroidetes, Actinobacteria und Fusobakterien. Innerhalb dieser sind die Gattungen Streptokokkus, Veilonella, Leptotrichia, Prevotella und Haemophilus am häufigsten.
Hohe individuelle Variabilität des oralen Mikrobioms
Die durch vielfältige Interaktionen mit unseren Zellen, Geweben und Organen charakterisierten Mikroorganismen haben sich im Verlauf der Evolution gemeinsam mit ihren Wirten in vorwiegend symbiontischer Gemeinschaft entwickelt und etabliert. Immerhin beträgt die Anzahl der uns besiedelnden Mikroben das Zehnfache unserer Körperzellen. Man unterscheidet zwischen dem Core-Mikrobiom und dem variablen Mikrobiom. Während das Core-Mikrobiom nur die bei allen gesunden Individuen an den jeweiligen Loci des Körpers vorkommenden Arten umfasst, ist das individuelle Mikrobiom weit heterogener. Es ist das Resultat zahlreicher exo- und endogener modifizierender Komponenten wie phänotypischer und genotypischer Merkmale, Alter, Geschlecht oder Lebensstil. Gerade bei der oralen Flora führt dies selbst bei „Mundgesunden“ zu einer sehr hohen interindividuellen Variabilität der Mikroflora.
Diese Schwankungen in der Zusammensetzung der Biozönosen der Hart- und Weichgeweben der Mundhöhle innerhalb einer Population geben wichtige Einblicke in die Anfälligkeit oder Resistenz bestimmter Individuen gegenüber oralen Infektionen. Die jeweils dominant vertretenen Arten beeinflussen sich gegenseitig über Mechanismen wie Amphi- und Antibiose, überartliche genetische Rekombination, bakterielle Synergismen, Koaggregation und die Ausbildung von Nahrungsketten. Die Keime eines gesunden oralen Mikrobioms sind eine notwendige Platzhalte- oder Residentflora. Sie belegen die Siedlungsräume der Mundhöhle und schützen sie vor aggressiven Mikroorganismen.
Die Residentflora steht mit den Geweben und dem lokalen und systemischen Immunsystem im Gleichgewicht. Nach Etablierung einer Pionierflora kurz nach der Geburt entstehen zunächst dünne Plaques in Abhängigkeit von den jeweiligen ökologischen Nischen wie Gingiva, Mundschleimhaut, Tonsillen und Zahnschmelz. Speichelfluss und sekretorische Immunglobuline, speziell IgA, Faktoren wie Lactoferrin, Lysozym oder Histatin, wirken regulierend auf Qualität und Quantität der beteiligten Mikroben. Vernünftige Mundhygiene verhindert eine Verschiebung des Gleichgewichts in Richtung potenziell pathogener mikrobieller Plaques und der Entstehung komplexer Biofilme. Sowohl ein Überhandnehmen der Mikroben als auch eine zu aggressive Plaqueeliminierung, etwa durch zu häufige Anwendung von hochbakteriziden Spülungen wie Chlorhexidin oder Wasserstoffsuperoxid, können das orale Gleichgewicht empfindlich stören.
Mikrobielle Interaktion bestimmt die Pathogenität
Dysbiose statt Symbiose ist der erste Schritt zu entzündlichen oralen Erkrankungen oder Karies. Die Ursachen der Destabilisierung des Mikrobioms sind vielfältig. Faktoren wie Ernährung, chronische oder konsumierende Erkrankungen, hormonelle Veränderungen, medikamentöse Einflüsse, mechanische Irritationen, Tabak, Alkohol und mangelnde Mundhygiene sind nur einige davon. Im Gegensatz zu früheren Meinungen weiß man heute, dass die als typische Parodontalkeime bekannten Bakterien, wie Prevotella, Porphyromonas, Tannerella, Treponema und sogar Aggregatibacter, auch bei gesunden Individuen, wenn auch nur in geringer Zahl, vorhanden sind. Erst bei Überhandnehmen dieser Arten und Verdrängung anderer vorwiegend grampositiver und aerober Spezies kommt es zu Entzündung und Gewebedestruktion.
Mittels Metatranskriptionsanalyse wurde am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung die Gesamtheit der aktiven Gene in Zahnfleischtaschen sequenziert. Dabei wird nicht die mikrobielle DNA, sondern die Messenger-RNA abgebildet. Es handelt sich um mehr als 10 Millionen aktiver Gene. Diese Untersuchungen ermöglichen einen unmittelbaren Vergleich der Genexpression von Gesunden mit Parodontitispatienten. Nicht nur die Tatsache der Anwesenheit und der Menge von potenziell pathogenen Keimen im Sulkus bestimmt deren Virulenz. Ausschlaggebend sind auch die Wechselwirkungen der beteiligten Mikroorganismen innerhalb der Biozönose. So kommt dem an sich nur als mäßig pathogenen Begleitkeim angesehenen Fusobacterium nucleatum nach aktuellen Forschungsergebnissen eine Schlüsselrolle in der Etablierung subgingivaler Biofilme zu. Der Keim ist ein Verbindungsglied zwischen der normalen Mundflora und den krankheitsassoziierten gramnegativen Anaerobiern. Fusobakterium ist sowohl zur innerartlichen als auch zur multigenerischen Koaggregation befähigt. Im Gegensatz zu den klassischen parodontalen Pathogenen kann sich F. nucleatum an Oberflächen der kokkendominierten Primärflora anheften und dient dann selbst als Grundlage für das Aufwachsen von Spätbesiedlern wie Eubakterium und Bacteroidesarten. Ähnliche Koaggregationsphänomene gibt es auch zwischen Treponema denticola, Porphyromonas gingivalis und Tanerella forsythia.
Zusätzlich können sich bestimmte Bakterienkombinationen gegenseitig in ihrer Virulenz steigern und damit die negativen Auswirkungen auf die oralen Strukturen potenzieren. Fusobakterium etwa produziert Buttersäure in entzündeten Zahnfleischtaschen. Genexpressionsanalysen haben gezeigt, dass der Keim auch bei Gesunden Butyrat produziert, allerdings tragen in tiefen Zahnfleischtaschen noch weitere Keime zur Buttersäureproduktion bei, wodurch diese ein kritisches Ausmaß erreicht. Zudem können Fusobakterien die Stoffwechselprodukte der anderen Erreger für verstärkte Butyratbildung nutzen. Auch andere, eigentlich nur als akzessorische Pathogene betrachtete Mikroorganismen wie Prevotella nigrescens können, sobald entzündlich vorgeschädigtes Gewebe vorliegt, deutlich aggressivere Pathomechanismen aktivieren.
Dies macht deutlich, dass die alleinige Analyse und Bekämpfung einiger weniger Leitkeime in vielen Fällen absolut unzureichend für eine erfolgreiche Therapie sind. Die Kenntnis der Zusammenhänge innerhalb individuell höchst variabler Mikrobiome und die breite Erfassung der möglichen Erregerspektren bieten hier erfolgversprechende Ansätze.
DDr. Christa Eder, Wien
Dr. László Schuder, Wien