Der Kommentar von Dr. Jan H. Koch zur Praxisrelevanz von Behandlungsempfehlungen
Wie relevant sind Leitlinien und andere Empfehlungen in der Zahn- und Oralmedizin? Die Antwort ist klar: Nur wer den aktuellen Stand des Wissens kennt, kann seinen Patienten die beste Behandlung anbieten. Daran ändern auch Meinungsäußerungen nichts, die eine wissenschaftsgestützte Heilkunde ablehnen. Der Vorwurf, Befürwortern gehe es primär um Macht und wirtschaftliche Interessen, greift zu kurz. Auf der Basis neuer Vorgaben werden datengestützte Empfehlungen methodisch laufend weiterentwickelt. Das gilt für Unabhängigkeit ebenso wie für Patientennutzen und praktische Anwendbarkeit.
„Ich finde meine Meinung besser“
Ungeachtet dessen werden mit sorgfältiger Forschung gewonnene Erkenntnisse häufig ignoriert, im Bereich der Oralmedizin zum Beispiel von Produktanbietern. Diese publizieren munter „Experten-Konsensus“ (mit langem „u“) ohne systematische Studienanalyse oder Wirksamkeitsbehauptungen auf der Basis mangelhafter oder fehlender Belege. Während die Interessenlage hier klar ist, geben teils bizarre Stellungnahmen selbst ernannter Experten aus der Praxis Rätsel auf. Manche haben vermutlich ein Autoritätsproblem, andere wollen sich profilieren: „Du hast zwar Recht, aber ich finde meine Meinung besser“.
Methodische Probleme
Wie relevant sind aber aktuell verfügbare Empfehlungen in der Zahn- und Oralmedizin? In der Tat lassen sich diese aufgrund fehlender Daten häufig nur schwierig formulieren. Hier rächt sich, dass praxisbezogene Forschung aufgrund fehlender Mittel häufig Mangelware ist. Hinzu kommen hohe methodische Anforderungen: So muss zum Beispiel eine patientengerechte Versorgung von Freiendsituationen funktionell-biomechanische, parodontal-systemische und auch wirtschaftliche Faktoren berücksichtigen und in die Forschung einbeziehen.
Eine indikationsbezogene Leitlinie fehlt hier, wie in vielen anderen Fällen, obwohl sie zum Beispiel auch für Kostenerstatter von großem Interesse wäre. Solange dies so ist, müssen vorhandene – auch im Sinne der evidenzbasierten Medizin einfacher angelegte – Studien bewertet und zum individuellen Patienten in Beziehung gesetzt werden. Therapeutische sind immer Einzelfallentscheidungen, Empfehlungen nur ein Werkzeug, um diese zu verbessern. Praxisbasierte Forschungsnetzwerke versprechen hier realistischere Ergebnisse als rein universitäre (siehe auch Oralmedizin kompakt-Beitrag „Praxisbasierte Forschung für bessere Behandlung“).
Patient als Objekt
Kritik an neueren Entwicklungen setzt zum Teil grundsätzlicher an und liefert schwergewichtige Argumente. So sieht der Herner Pneumologe und Schlafmediziner Santiago Ewig den „Kranken als Objekt von Interventionen, die man mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit glaubt als richtig zu erkennen“ („Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, 7. Mai 2006). Die zentrale Bedeutung von Patientenbedürfnissen als Kriterium im Rahmen evidenzbasierter Entscheidungsfindung wird in den zurückliegenden Jahren durchaus diskutiert, in medizinischen Empfehlungen aber noch unzureichend berücksichtigt (Stichwort Übertherapie). An der grundsätzlichen Berechtigung wissenschaftsbasierter Medizin ändert dieses Problem nichts.
Hop oder top?
Sich bei einer klinischen Frage um die neuesten fachlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisse zu bemühen, kann unbequem sein. Die „Zahn“-Medizin hat die Wahl: Entweder läuft sie Gefahr, den Anschluss zu verlieren und im schlimmsten Fall auf das Niveau des Bader- oder Dentistenzeitalters zurückzufallen („diese Salbe hat bei mir schon immer geholfen“). Oder sie entwickelt sich weiter in Richtung orale Heilkunde als Teil der modernen Medizin. Damit das gelingt, müssen sich Ärztinnen und Ärzte an Leitlinien orientieren – und im Idealfall durch kritische Auseinandersetzung an ihrer Gestaltung teilhaben.