Viele Konzepte für parodontal Erkrankte – aber (noch) kaum für noch Gesunde
Vier Jahre nach dem letzten Kongress spannte die Europerio vom 15. bis 18. Juni 2022 in Kopenhagen einen weiten Bogen – von persönlicher Mundhygiene und professioneller Gingivitis-Prävention bis zu Therapie und Nachsorge der Periimplantitis. Damit deckte die Großveranstaltung die gesamte Lebenszeit von Zähnen bis zur – quasi posthumen –Implantatversorgung ab. Neu ist zum Beispiel, dass bereits eine Gingivitis behandlungsbedürftig erscheint, auch um systemischen Erkrankungen vorzubeugen. Und Periimplantitis hat Eigenschaften einer chronischen, nicht heilenden Wunde, mit Konsequenzen für die Therapierbarkeit.
Kurz und klar
- Parodontales Gewebe geht verloren, wenn sich mikrobielle Fehlentwicklung (Dysbiose) und Entzündung wechselseitig verstärken.
- Genetische, immunologische, systemische und Lebensstil-Faktoren beeinflussen das Erkrankungsrisiko.
- Ein anti-inflammatorischer (immun-modulatorischer) Wirkstoff gegen Parodontitis zeigte in einer Phase-2a-Studie gute Ergebnisse.
- Gingivitis kann als Parodontitis-Vorstufe systemische Auswirkungen haben. Sie sollte frühzeitig behandelt oder vermieden werden.
- Mukositis ist möglicherweise nicht reversibel und Periimplantitis hat Eigenschaften chronischer Wunden.
- Molekularbiologische Tests und systemisch-lebensstil-bezogene Risiko-Screenings für Parodontitis und Periimplantitis werden weiter erforscht.
- Systemisches Screening durch Oralmediziner könnte das Risiko für kardiovaskuläre Todesfälle senken.
- Lesen Sie dazu auch den Kommentar „Gingivitis – das nächste große Ding?“.
Allein drei Vortragsblöcke (Sessions) behandelten ernährungsbezogene, mikro- und molekularbiologische Aspekte der Parodontitis. Therapeutisch gibt es zunehmend entzündungshemmende Möglichkeiten, angefangen mit probiotischen Nahrungsmitteln, zum Beispiel nitrathaltigem Gemüse (Spinat, rote Beete, Rhabarber, Brokkoli) und Säften oder Nahrungsergänzungsmitteln (Vorträge Mike Curtis, London, und Alex Mira, Valencia [1, 2]). Mit Gesundheit assoziierte aerobe Bakterien, die durch Nitrat und Probiotika gefördert werden, wirken antimikrobiell und anti-inflammatorisch und hemmen die Biofilmreifung. Die S3-Leitlinie zu den Stadien I–III enthält noch keine Empfehlungen zur unterstützenden therapeutischen Anwendung [3, 4].
Das gilt auch für den komplement-hemmenden pharmazeutischen Wirkstoff AMY-101, der zurzeit in einer Phase-3-Studie klinisch untersucht wird (George Hajishengallis, Philadelphia). Ziel ist, Entzündung und Gewebezerstörung um Zähne zu hemmen, möglicherweise auch um Implantate [5]. Ob anti-inflammatorische Wirkstoffe den Antibiotika-Einsatz reduzieren können, wurde in der Session nicht diskutiert.
Sind Küretten noch relevant?
Weniger revolutionär fielen vier Vorträge zum Thema nicht-chirurgische Parodontaltherapie aus. Cristiano Tomasi (Göteborg) stellte auf der Basis einer großen Praxisstudie fest, dass weder die Behandlungszeit noch die Wahl der Instrumente von der Schwere der Erkrankung beeinflusst wird („Patient-reported experiences …“, Liss et al., Studie eingereicht). Als einziger signifikanter Faktor für den Therapie-Erfolg erwies sich sorgfältige Patienteninstruktion und -aufklärung. Nach einer Literaturanalyse von Jean Suvan (London) sind für die Qualität des subgingivalen Debridements nicht die verwendeten Instrumente (Küretten, Schall oder Ultraschall), sondern behandlungsbezogene Erfahrung und Sorgfalt entscheidend. Suvan ist Erstautorin des systematischen Reviews, auf dem die entsprechenden Empfehlungen der aktuellen S3-Leitlinie basieren [6].
Zwei weitere Referenten diskutierten den adjunktiven Einsatz von Laser und Schmelzmatrix-Proteinen. Die vor allem in der UPT häufig eingesetzte Airflow-Technologie (subgingivales Airpolishing) wurde dagegen im Vortragsblock trotz zunehmend verfügbarer klinischer Studien nicht berücksichtigt [7, 8].
Molekularbiologische Detektivarbeit
Dass subgingivales Biofilm-Management (Debridement) das Mikrobiom nicht immer in Richtung Gesundheit verändert, zeigt eine klinische Studie bei systemisch gesunden Patienten (Durchschnittsalter 50 Jahre, siehe Studienbesprechung Dr. Kerstin Albrecht in der „zm“, bit.ly/3a47bW3 [9]). Trotz verbesserter klinischer Werte blieben bei einigen Patienten Dysbiose und Entzündungs-Marker im pathologischen Bereich. Diese Befunde zeigen zusammen mit klinischen Beobachtungen und Analysen bei großen Patientenkollektiven, dass je nach Risiko eine häufigere parodontale Nachsorge notwendig ist [10].
Wünschenswert ist sicher, diese gefährdeten Patienten durch ein geeignetes Screening schon vor einer Erkrankung zu identifizieren. Recall-Intervall und weitere Maßnahmen könnten angepasst und vielen Menschen ein langer Leidensweg mit Zahnverlusten, entsprechenden allgemeingesundheitlichen und Lebensqualität-bezogenen Problemen oder Halitosis erspart werden. Neben dem Mikrobiom steht für dieses Ziel eine Reihe von „omics“-Themen auf der Forschungs-Agenda. So sind Tausende mikrobielle oder Wirtsproteine bekannt (proteomics), die mit immunologischen und anderen Stoffwechselvorgängen verknüpft sind und in ihrem Gesamtprofil pathologische oder gesunde Muster repräsentieren (Marja Laine, Amsterdam [11, 12]). Mit Big-Data-Analysen wird versucht, charakteristische Protein-Profile zu ermitteln. Dies kann durch Speichel- oder Sulkusfluid-Tests erfolgen, die aber trotz erster produktbezogener Ankündigungen (PadoBiom, IAI AG, Schweiz) noch nicht kommerziell verfügbar sind.
Parodontitis-Schweregrad verweist auf erhöhtes Sterberisiko
Ein weiterer Weg zu einer stärker personalisierten Oralmedizin könnte sein, Parodontitis-Patienten in Bezug auf systemische Risikofaktoren wie kardiovaskuläre Erkrankungen (CVD) zu screenen. Bruno Loos (Amsterdam) stellte eine Studie vor, die die Faktoren Alter, systolischer Blutdruck, Rauchen sowie Blutwerte über einen Bluttest aus der Fingerkuppe einbezieht (HbA1c/Typ2-Diabetes; Cholesterol und HDL/CVD).
Für 16 Prozent der Patienten mit lokalisierter und 30 Prozent mit generalisierter Parodontitis der Stadien III/IV wurde in Verbindung mit den erhobenen systemischen Befunden ein „sehr hohes Risiko“ gefunden, in den nächsten zehn Jahren an einer CVD zu sterben. Auch wenn die Bluttests in einer Haus- oder internistischen Praxis erfolgen, kann ein solches Screening ein wichtiger Beitrag zu mehr Interdisziplinarität unter Einschluss der Oralmedizin sein.
Periimplantitis ein immunologisches Problem?
Diskutiert wird seit einiger Zeit auch, ob dysbiotische Veränderungen um Zähne eher sekundär als Folge der Entzündung auftreten (Henne-Ei-Problem [2, 13]). Ähnliche Überlegungen waren in den Vortragsblöcken zu Mukositis und Periimplantitis zu hören, deren Ätiologie trotz vorhandener Stellungnahmen noch unzureichend geklärt erscheint [14, 15]. Histologisch fällt auf, dass das entzündliche Infiltrat ausgedehnter ist und in direktem Kontakt zu sowohl Bindegewebe als auch Knochen steht. Es wird daher nicht wie bei Parodontitis durch ein Taschenepithel abgeschirmt (Marjolaine Gosset, Paris).
Weiterhin ist die immunologische Kommunikation zwischen Weichgewebe und Mikrobiom im Vergleich beider Erkrankungen 100-mal geringer (Purnima Kumar, Ann Arbor). Sie gleicht damit einer nicht heilenden chronischen Wunde, mit pathologischen Konsequenzen bis zur möglichen Kanzerogenität. Auch erhöht sich die Toleranzschwelle der Immunabwehr bei einem zweiten Mukositis-Schub, sodass auch diese irreversibel sein könnte. Für eine nicht primär mikrobiologische Ätiologie periimplantärer Entzündung sprechen auch noch nicht publizierte Tierversuche, die einen pharmakologischen Effekt immunmodulatorischer Medikamente zeigen (Asaf Wilensky, Jerusalem).
Gingivitis – das nächste große Ding?
Mit Implantaten beschäftigten sich in Kopenhagen immerhin 14 der insgesamt 41 Haupt-Sessions. Das entspricht einem guten Drittel, allerdings zum größeren Teil mit Bezug auf periimplantäre Entzündung oder Defektaufbau. Die Rolle des schraubenartigen Zahn-Ersatzes spiegelte sich auch in Zahl und Stellenwert der Sponsoren und Industrie-Aussteller wider. Einen Bezug zur Implantologie, vor allem aber zur Prothetik und weiteren Disziplinen, hat die neue EFP-Leitlinie zur Behandlung des Parodontitis-Stadiums IV. In Kopenhagen gab es dazu nur eine Session, unter anderem zum Thema Kaufunktion bei Parodontitis (Nicola Zitzmann).
Neben der Periimplantitis steht mit deren „Initialstadium“ Gingivitis – seit dem EFP-Workshop 2015 – ein weiteres Thema auf der Agenda [16–19]. Gingivitis kann bereits zu Knochenödemen führen, die im MRT-Bild erkennbar sind und damit trotz noch nicht vertiefter gingivaler Sulki einen klaren Krankheitswert haben dürften [20]. Symposien einer Reihe von Mundhygieneprodukte-Anbietern fokussierten primäre Gingivitis-Prävention, meist in Bezug auf persönliche („häusliche“) Maßnahmen. Da diese aber gerade bei Patienten mit besonderem Betreuungsbedarf häufig unzureichend sind, scheint eine maßgeschneiderte professionelle Unterstützung geboten. Dies sowohl aus ethischen – Gingivitis ist im Gegensatz zu Parodontitis noch heilbar – als auch aus ökonomischen Gründen (vgl. Kommentar).
Andererseits verwies Ian Chapple (Manchester) im Rahmen des GSK-Symposiums darauf, dass diese Patientengruppe noch nicht sicher identifizierbar sind (siehe oben). Filippo Graziani (Pisa) präsentierte im selben Symposium eine randomisierte Studie seiner Arbeitsgruppe, die mit einem intensiven Gingivitis-Management (Mundhygiene-Instruktion und elektrische Zahnbürste) sowohl eine geringere systemische Entzündung als auch eine bessere Lebensqualität zeigte [21].
Fazit
Mit laut Veranstalter mehr als 7.100 Teilnehmern, über 130 Referenten und 111 Ausstellern war die Europerio 10 in Kopenhagen etwas kleiner als die vorangegangene in Amsterdam. Mit dem großen und sehr vielfältigen Spektrum an Vortragsblöcken und der mit viel Herzblut und Humor präsentierten Umrahmung (unter anderem musizierte der EFP-Vorstand mit einer Abba-Revival-Band) erfüllte sie aber wieder alle Erwartungen. Dazu trug auch Katherine Richardson vom Kopenhagener Research Centre on Ocean, Climate and Society bei, die die spezielle Verantwortung der Medizin beleuchtete.
Diese beziehe sich nicht nur auf den ökologischen Fußabdruck genutzter Produkte, sondern auch auf die Verantwortung der Gesundheitsberufe für soziale Nachhaltigkeit. Technologie werde unsere Probleme nicht lösen, notwendig sei ein gründlicher Wandel von Verhalten und sozialen Systemen. Der Kopenhagener Kongress war zumindest in Teilaspekten in diese Richtung als „grüner Kongress“ geplant worden.
Wie gewohnt bot auch die Europerio Nummer 10 einen Schatz faszinierender und auch überraschender fachlicher Erkenntnisse. Das gilt besonders in Bezug auf die molekularbiologische und systemische Medizin, die den Horizont von Oral- und anderen interessierten Ärzten kontinuierlich erweitert. Wie schon bei den Kongressen 2015 und 2018 erkennbar war, bemühen sich Forschende und Praktiker intensiv, die Ätiologie von Parodontitis und Periimplantitis ebenso wie individuelle Unterschiede der Erkrankungsanfälligkeit besser zu verstehen. Einschränkend muss gesagt werden, dass sich Studienergebnisse weiterhin nur begrenzt auf die tägliche praktisch-therapeutische Tätigkeit übertragen lassen. Unter anderem bei primärer Prävention und Diagnostik gibt es sicher wissenschaftlich und vor allem praxisbezogen noch viel Luft nach oben. Entsprechend können wir auf die nächste Europerio im Mai 2025 in Wien gespannt sein. Bis dahin gilt es, den therapeutischen wie präventiven Stau bei parodontalen Erkrankungen mit Engagement anzugehen.
Dr. Jan H. Koch, Freising
Kongress online abrufbar: Dieser Bericht wirft nur Schlaglichter auf einige der relevanten Themen. Kongress-Teilnehmer können die vielfältigen Vorträge, davon auch viele praktisch orientierte, noch bis etwa Mitte September 2022 online abrufen.
Literatur
[1] Ferrer, M. D., et al.; Odontology 2020. 108 (2): 180-187.
[2] Jockel-Schneider, Y., et al.; J Periodontol 2021. 92 (11): 1536-1545.
[3] DG PARO, DGZMK. S3-Leitlinie (Kurzversion). AWMF-Registernummer: 083-030, 2019.
[4] Sanz, M., et al.; J Clin Periodontol 2020. 47 Suppl 22 4-60.
[5] Kajikawa, T., et al.; Semin Immunol 2022. 101608.
[6] Suvan, J., et al.; J Clin Periodontol; 47 Suppl 22:155-175.
[7] Divnic-Resnik, T., et al.; J Clin Periodontol 2022.
[8] Vouros, I., et al.; Int J Dent Hyg 2022;20:381-390.
[9] Johnston, W., et al.; Sci Rep 2021. 11 (1): 9796.
[10] Giannobile, W. V., et al.; J Dent Res 2013. 92 (8): 694-701.
[11] Bostanci, N., et al.; J Clin Periodontol 2020. 47 (11): 1304-1316.
[12] Grassl, N., et al.; Genome Med 2016. 8 (1): 44.
[13] Meyle, J., et al.; Periodontol 2000 2015. 69 (1): 7-17.
[14] Albrektsson, T., et al.; Clin Implant Dent Relat Res 2014. 16 (2): 155-165.
[15] Berglundh, T., et al.; J Periodontol 2018. 89 Suppl 1 S313-S318.
[16] Chapple, I. L. C., et al.; Journal of Clinical Periodontology 2015. 42 S71-S76.
[17] Trombelli, L., et al.; J Periodontol 2018. 89 Suppl 1 S46-S73.
[18] Murakami, S., et al.; J Periodontol 2018. 89 Suppl 1 S17-S27.
[19] Chapple, I. L. C., et al.; J Periodontol 2018. 89 Suppl 1 S74-S84.
[20] Probst, M., et al.; J Clin Periodontol 2021. 48 (7): 929-948.
[21] Perić, M., et al.; J Clin Periodontol, online 20220627.