Die zahnmedizinische Versorgung von Kleinkindern, Kindern und Erwachsenen mit schweren Krankheiten sowie von Senioren ist derzeit in Deutschland stark gefährdet. Diese Personen benötigen oft eine zahnmedizinische Versorgung in Vollnarkose – die jedoch hierzulande häufig nicht ausreichend gewährleistet werden kann.
Eine Umfrage unter allen 30 zahnmedizinischen Universitätskliniken Deutschlands hat gezeigt, dass eine deutliche Mehrheit der Standorte diese vulnerablen Patienten nicht ausreichend versorgen kann. Die Wartezeiten für Behandlungen in Vollnarkose betragen demnach im Schnitt derzeit viereinhalb Monate – im Jahr 2009 lagen sie noch bei drei bis vier Wochen.
Untragbare Situation
Experten der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (DGMKG) und der Vereinigung der Hochschullehrer für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (VHZMK) machen auf ihrer hybriden Pressekonferenz am 15. Juni 2023 in Hamburg anlässlich ihres 73. Kongresses auf dieses ernste Thema aufmerksam – und stellen klare Forderungen an die Gesundheitspolitik.
Schwerkranke Kinder und Erwachsene, sehr kleine Kinder, Menschen mit Behinderungen und sehr alte Patienten – vulnerable Gruppen – benötigen gerade in der Zahnmedizin eine Sonderbehandlung, nämlich eine Vollnarkose für den zahnmedizinischen Eingriff.
„2021 hatten beispielsweise 86 Prozent der Kinder in der Kindersprechstunde in Heidelberg schwere Erkrankungen und Behinderungen wie Entwicklungsstörungen, Lähmungen, Epilepsie, Down-Syndrom oder sonstige Fehlbildungssyndrome“, berichtet Professorin Dr. med. dent. Diana Wolff, Expertin der VHZMK und Ärztliche Direktorin der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde am Universitätsklinikum Heidelberg. Diese und andere vulnerable Patienten brauchen für die oft aufwändige Behandlung eine Vollnarkose – und eine anschließende stationäre Betreuung nach der Operation. „Es ist aus unserer Sicht untragbar, wenn beispielsweise ein Mensch mit Behinderung, der sich schlecht artikulieren kann und bei Zahnschmerzen aufhört zu essen, sich an den Kopf schlägt oder schreit, mehr als vier Monate auf eine Narkosebehandlung warten muss“, so Wolff.
Trennung ambulat und stationär aufheben
Verschiedene Ursachen führten zu der heute so dramatischen Situation: Die Zahl der vulnerablen Patienten ist gestiegen – unter anderem aufgrund des demografischen Wandels. Selbstverständlich wollen die Zahnärzte auch die Zähne und damit die Lebensqualität der zum Teil noch sehr jungen Patienten erhalten – und zahnerhaltende Maßnahmen wie Zahnsanierungen sind aufwendiger als das Ziehen der Zähne. Die Anzahl der Operationssäle und auch die Anzahl der Pflegekräfte ist aber begrenzt.
„Im Regelfall ist kein Personal für die reine Krankenversorgung verfügbar, weil das zahnärztliche Personal an Universitätskliniken über die Studierendenzahl, das heißt eine sehr veraltete Kapazitätsverordnung, reguliert ist“, sagt Professor Dr. med. Dr. med. dent. Bernd Lethaus, Experte der DGMKG und Direktor der Klinik und Poliklinik für Mund, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie in Leipzig.
Zudem wird der Aufwand der Kliniken weder für ambulante noch für stationäre Zahnsanierungen in Narkose adäquat bezahlt. „Die strikte Trennung zwischen ambulanter und stationärer Abrechnung macht kostendeckendes Arbeiten nahezu unmöglich“, erklärt Lethaus. „Momentan fallen vulnerable Gruppen deshalb sozusagen im freien Fall durch das Raster unseres Gesundheitssystems. Diese Patienten müssten primär in Universitätskliniken behandelt werden. Hier ist die Situation – nicht zuletzt aufgrund der Effekte der Corona-Pandemie und dem gestiegenen Kostendruck – jedoch besonders angespannt.“
Die DGMKG und die VHZMK prangern die unhaltbaren Zustände an und wollen Politik und Öffentlichkeit für das Problem sensibilisieren. „Wir fordern eine Auflösung der Trennung zwischen ambulanter und stationärer Behandlung. Die Kosten für zahnmedizinische Leistungen in Narkose – darunter unter anderem auch der Zahnerhalt durch Prophylaxe, restaurative Therapie und Kinderkronen – müssen beispielsweise adäquat vergütet werden. Wir stellen uns weiterhin Netzwerkstrukturen vor, in denen wir Hand in Hand mit niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen und Schwerpunktpraxen arbeiten“, so Professorin Wolff abschließend.
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