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„Wann ist ein Hausbesuch angebracht?“

Senior beim Zähne putzen

Einige hochbetagte Senioren können sich noch selbst die Zähne putzen. Bei pflegebedürftigen Patienten ist die Mundpflege aber oft eine Herausforderung.

In der geriatrischen Zahnmedizin, einem Teilgebiet der Seniorenzahnmedizin, tut sich was: Das ehemals „ungeliebte Stiefkind“ der Zahnmedizin bekommt auch politisch Rückenwind, neue Abrechnungsmöglichkeiten wurden erst kürzlich geschaffen. Doch viele Probleme, wie die Versorgung der Pflegebedürftigen, die zu Hause leben, sind noch nicht gelöst. Über mögliche Ansätze, neue Entwicklungen und die Gründe, warum sich das Engagement für hochbetagte Senioren lohnt, sprach Prof. Ina Nitschke, Präsidentin der DGAZ (Deutsche Gesellschaft für Alterszahnmedizin), mit dzw-Redakteurin Evelyn Stolberg.

 

Frau Prof. Nitschke, 2018 wurde Paragraf 22a SGB V eingeführt. Hat sich dadurch die Situation für Zahnärzte und Pflegebedürftige verändert?

Prof. Dr. Ina Nitschke: Der Paragraf hat ganz klar Verbesserungen gebracht. Einige Zahnärzte haben sich bereits intensiv mit den neuen Abrechnungspositionen auseinandergesetzt, deshalb haben sie jetzt mehr Zeit für die Betreuung der Pflegebedürftigen. Andere Kollegen, die noch nicht so involviert sind, wissen mittlerweile zumindest, dass es neue Positionen für die ambulanten Pflegebedürftigen gibt, die noch mit Unterstützung der Angehörigen in die Praxis kommen können. Ich empfehle allen Praxen, den Anamnesebogen um den Aspekt des Pflegegrads zu erweitern. Darin kann auch gleich abgefragt werden, ob es einen Betreuer gibt. Welche Positionen grundsätzlich in der ambulanten Behandlung möglich sind, werden wir als DGAZ bei verschiedenen Veranstaltungen vorstellen. Die nächste wird am 13. September 2019 in Kooperation mit der KZV Berlin in der Hauptstadt stattfinden.


Was muss passieren, um die Mundgesundheit der Senioren in Alten- und Pflegeheimen weiter zu verbessern?

Nitschke: Die Mundgesundheit kann weiter verbessert werden, wenn Angehörige, Ärzte und Therapeuten, also alle Leute, die sich um die alten Patienten bemühen, kooperieren. Wenn die Pflegedienstleitungen dahinterstehen und im Seniorenheim Mundgesundheit als Teamarbeit aufgefasst wird – wobei der Zahnarzt und seine Mitarbeiter als Teil dieses Teams verstanden werden müssen – dann kann mit den Kooperationsverträgen auch mehr individuelle Aufklärung stattfinden. Die kann der Zahnarzt auch als zusätzliche Leistung, die erbracht wurde, abrechnen. Es ist ebenfalls möglich, einen individuellen Mundgesundheitsplan zu erstellen, auch den kann sich der Zahnarzt vergüten lassen.

Grundvoraussetzung ist aber immer, dass Pflegedienst und Einrichtungsleitung die Zusammenarbeit wollen. Oft steht und fällt der Erfolg mit einzelnen Personen. Durch einen Personalwechsel kann es beispielsweise sein, dass andere Prioritäten gesetzt werden und der Zahnarzt dadurch das Gefühl bekommt, nicht mehr erwünscht zu sein. Im Quintessenz-Verlag sind in den vergangenen Monaten drei Hefte erschienen, die sich ausschließlich mit der aufsuchenden Betreuung beschäftigen. Die Formulare und Inhalte werden Ende 2019 als Buch erscheinen. Einige der Inhalte werden wir dann auch als Formularkompass auf der DGAZ-Website veröffentlichen.

Prof. Dr. Ina Nitschke

Warum sich Prof. Dr. Ina Nitschke für die Seniorenzahnmedizin stark macht? "Wir können ärztlich tätig sein und Patienten, die körperlich und psychisch stark belastet sind, zu ein bisschen mehr Lebensqualität verhelfen. Das ist etwas anderes, als einer hübschen jungen Frau Veneers aufzukleben."

Wie ist es grundsätzlich um die Mundgesundheit der pflegebedürftigen Senioren in Deutschland bestellt?

Nitschke: Darüber gibt die Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie sehr ausführlich Auskunft. Während in der vierten Ausgabe nur Senioren von 65 bis 74 Jahre enthalten waren, ist in der aktuellen Studie noch die Gruppe 75 bis 100 Jahre hinzugekommen. Und bei den Älteren ist sogar noch ein Unterschied zwischen „pflegebedürftig“ und „nicht pflegebedürftig“ gemacht worden. Wenn man sich also ein Bild der wahren Probleme machen möchte, sollte man nur diese beiden Gruppen der gleichen Altersgruppe vergleichen.

Rund zwei Drittel der Hochbetagten werden zu Hause gepflegt. Gibt es Konzepte, um auch sie zu erreichen, vielleicht über mobile Pflegedienste?

Nitschke: Dazu gibt es leider noch nicht so viele strukturierte Konzepte. Primär läuft es so, dass der Zahnarzt seine nun pflegebedürftig gewordenen Patienten auch weiter zu Hause betreut, wenn sie nicht mehr in die Praxis kommen können. Manche Kollegen können das in ihrer jeweiligen Praxisstruktur aber nicht leisten, deshalb ist es noch nicht nachhaltig organisiert. Das Problem zu lösen, ist aber auch eine Gratwanderung. Pflegebedürftige können manchmal auch im Auto der Angehörigen oder mit dem Taxi in die Praxis kommen. Wir können es schlichtweg nicht leisten, zu jedem Patienten mit Pflegegrad nach Hause zu fahren.

Wir können nur zu denen, die ihre Wohnung nicht mehr verlassen können. Manchmal erleben wir aber, dass die Angehörigen einfach keine Lust haben, ihre Familienangehörigen in die Praxis zu bringen. Sie erklären, dass das Haus nicht verlassen werden kann. Aber es gibt Patienten, auch mit Pflegegrad , die durchaus in der Lage sind, begleitet in die Praxis zu kommen. Hier müssen wir mit unserem Team zusammen ein Gespür entwickeln, zu entscheiden, wann ein Hausbesuch notwendig ist, und wann der Zahnarzt aus familiärer Bequemlichkeit vielleicht ausgenutzt wird. Es kommt leider auch immer wieder vor, dass die Kollegen mit einer Mitarbeiterin rausfahren, und es macht niemand die Tür auf oder es ist kein Betreuer da.

Wenn der Pflegedienst den Zahnarztbesuch koordinieren könnte, würde das dem Ganzen eine gewisse Struktur verleihen. Die Koordinierungsarbeit müsste aber als Position „Organisation des zahnärztlichen Besuches“ von der Pflege abgerechnet werden können. Noch wird diese Leistung aber nicht vergütet. Das ist doch nicht richtig. Die Pflege soll mit uns zusammenarbeiten, Zeit investieren zur besseren Versorgung des Pflegebedürftigen, aber die eingesetzte Zeit bekommt sie nicht honoriert.

Wie soll das heute in der angespannten Pflege noch gehen? Also, wenn Herr Spahn weiter nur auf Digitalisierung setzt, wird das nicht ausreichen, um die Probleme draußen vor Ort, im realen Alltag zu lösen. Über unseren Kopf hinweg werden Sachen eingeführt, aber in puncto Datenschutz überblickt das doch keiner mehr.

Wir sind Zahnärzte, und keine Informatiker. Ich bitte Sie, sollen wir vielleicht noch pro Praxis einen Datenschutzbeauftragten einstellen? Es gibt schon Kollegen, die sehr gute Arbeit leisten, aber mit 62 weniger arbeiten oder frühzeitig in Rente gehen, weil sie schlichtweg keine Lust haben, sich mit diesem Kram zu beschäftigen.


Wie kann man pflegende Angehörige für das Thema Mundgesundheit sensibilisieren und schulen?

Nitschke: Wenn ein Pflegegrad vorliegt, gelten die Positionen nach Paragraf 22 a. Somit können Pflegekräfte oder die Angehörigen durch den Zahnarzt aufgeklärt werden. Mancherorts gibt es auch Volkshochschulen, in denen Zahnärzte Kurse für die Angehörigen anbieten. Am einfachsten wäre es, wenn diese eine PZR-Sitzung buchen. Darin enthalten sind neben der Reinigung noch die Instruktion, und die kann eben auch mit den Verwandten erfolgen.

Am besten funktioniert es, wenn ich dem Angehörigen die Zahnbürste in die Hand drücke und er zeigt, wie er die Zähne des Pflegebedürftigen putzt. Währenddessen kann er angeleitet werden, das funktioniert in der Regel am besten. Zu einem Teil der Prophylaxesitzungen sollte auch der Angehörige anwesend sein, damit er ebenfalls immer wieder motiviert wird. Auch dafür müssen wir die Zahnärzte und ihre Teams sensibilisieren.


Was macht für Sie die Seniorenzahnmedizin aus?

Nitschke: Mir persönlich ist wichtig, dass man hier die Möglichkeit hat, Menschen so richtig zu helfen. Wir können ärztlich tätig sein und Patienten, die körperlich und psychisch stark belastet sind, zu ein bisschen mehr Lebensqualität verhelfen. Das ist etwas anderes, als einer hübschen jungen Frau Veneers aufzukleben. Die tiefe Zufriedenheit mit der Erfüllung des ärztlichen Auftrags, das ist es, was viele Seniorenzahnmediziner spüren.