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Unterschreitung ärztlicher Standards und rechtliche Grauzonen

Zwei Zahnschienen in einer Hand

Patientensicherheit durchsetzen

Viele Aligner-Behandlungen erfolgen mutmaßlich weit unter gebotenen Standards. Experten diskutierten am 7. Juli auf Einladung des Zahnärztlichen Rechenzentrums für Bayern (ABZ-ZR) und der auf Medizinrecht spezialisierten Rechtsanwaltsgesellschaft Medavo (Stuttgart) primär über gewerbliche Anbieter.
„Patientensicherheit bei Aligner-Behandlungen durchsetzen“ – so lautete Anfang des Jahres der Antrag von Zahnarzt und Fachanwalt Dr. Wieland Schinnenburg (MdB/FDP) im Deutschen Bundestag. Die folgende Anhörung brachte klare Ergebnisse im Sinne von BZÄK/KZBV und Bund Deutscher Kieferorthopäden (BDK). Insbesondere sei eine ausschließlich web-basierte Ansprache und „Behandlung“ nicht fachgerecht. Trotzdem lehnten am 9. Juni mit Ausnahme der FDP alle Fraktionen den Antrag ab. Eine gesetzliche Regelung ist laut Schinnenburg erst nach der Bundestagswahl zu erwarten.

In seinem Impulsreferat für das Zoom-Symposium des ABZ-ZR und der Kanzlei Medavo ging Schinnenburg auf den sogenannten Facharztstandard ein. Dieser sei ein „Schlüsselbegriff im ärztlichen Haftungsrecht“ und definiere den „zu erwartenden Standard“, der in der Kieferorthopädie relativ hoch ist. Wegen des Haftungsrisikos empfiehlt Schinnenburg, auf eine ausreichende Qualifikation zu achten. Bei den meisten Aligner-Behandlungen seien zum Beispiel – anders als von gewerblichen Anbietern angegeben – zusätzliche Attachments notwendig.

Experten beim Symposium zu Aligner-Anbietern

Moderator und Experten beim Zoom-Symposium zum Thema gewerbliche Anbieter von Alignern und Patientensicherheit des ABZ-ZR und der Kanzlei Medavo (von links oben): Dr. Stefan Mühlstädt, Dr. Wieland Schinnenburg (MdB/FDP), Moderator Dr. Klemens Werner von Medavo, Dr. Kathrin Thumer, Justitiarin der LZK Nordrhein, sowie Dr. Hans-Jürgen Köning, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Kieferorthopäden (BDK).

Werbung bei Germany’s Next Topmodel

Auch von einer vertraglichen Kooperation mit gewerblichen Aligner-Anbietern raten Schinnenburg und sein Anwaltskollege und Moderator der Veranstaltung, Dr. Klemens Werner (Medavo), ab. Grund sei, dass ärztliche Partner im therapiebezogenen Klagefall möglicherweise voll haftbar sind. Patienten müssten sich mit einer Klage an einen berufsrechtlich verantwortlichen Zahnarzt wenden können. Dagegen ist laut Schinnenburg die Zusammenarbeit mit einem Fachlabor in Ordnung, solange dieses wie bei Zahnersatz nur als Hersteller aktiv wird. Auch die BZÄK verweist darauf, dass aus berufsrechtlichen Gründen immer ein Vertrag zwischen Zahnarzt und Patient erforderlich sei.

Unklar sei auch, ob alle gewerblichen Anbieter wie vorgeschrieben über die GOZ abrechnen (Werner: „Pauschalpreise sind unzulässig“) und ob vertraglich gebundene Praxen ihre Räume für eine quasi gewerbliche Tätigkeit zur Verfügung stellen dürfen (vergleiche Interview mit PlusDental, dzw Nr. 24-25/2021). Aktuell investieren gewerbliche Anbieter große Summen in Werbung, zum Beispiel für ein 150.000-Euro-Gewinnspiel bei Germany’s Next Topmodel (DrSmile, Mehrheitsbeteiligung Straumann). Dies führe nach übereinstimmender Einschätzung von Diskussionsteilnehmern auch dazu, dass Patienten vermehrt kieferorthopädische Fachpraxen für Aligner-Behandlungen konsultieren.

Behandlungsrisiken kein Thema

In welcher Weise die Eigendarstellung gewerblicher Anbieter von der Realität abweicht, erklärten in der Diskussion aufgrund eigener Erfahrung die niedergelassenen Kieferorthopäden Dr. Hans-Jürgen Köning (Berlin), Präsident des Bundesverbands der Deutschen Kieferorthopäden (BDK), und Dr. Stefan Mühlstädt (Neumünster). Mühlstädt habe über Vermittlung eines gewerblichen Anbieters („mit Plus oder Minus im Namen“) eine ihm zugewiesene Praxis aufgesucht und – vorgeblich für die Korrektur seiner eigenen Zähne – einen Scan durchführen lassen. Fragen in Bezug auf Behandlungsrisiken seien ihm von der zuständigen Behandlerin nicht beantwortet worden.

Insgesamt sah Mühlstädt hier eine klare Standardunterschreitung hinsichtlich Beratung, Diagnostik und Therapieplanung. Unabhängig von dem Termin sei ihm später von demselben Unternehmen angeboten worden, als kieferorthopädische Partnerpraxis Patienten zu selektieren. Mühlstädt lehnte ab, da er sich nach einer Untersuchung und Indikationsstellung in der ärztlichen Verantwortung sehe. Dies gelte auch, wenn der Patient über den gewerblichen Anbieter eine Aligner-Behandlung in Anspruch nehmen würde.

 

ABZ-ZR – KfO-bezogene Dienstleistungen ausgebaut

Tassilo Richter

„Wir bedanken uns bei Dr. Schinnenburg für den informativen Vortrag und freuen uns, dass rund 100 Kieferorthopäden teilgenommen haben.“ Tassilo Richter war Komoderator des Online-Symposiums und ist Geschäftsführer der ABZ-ZR. Das Unternehmen hat vor Kurzem den Bereich Kieferorthopädie von der genossenschaftlich organisierten ABZ eG übernommen.
Neben anderen Informationsangeboten kündigt die ABZ-ZR für den 6. bis 8. Mai 2022 am oberbayerischen Tegernsee einen KfO-Kongress an, mit „renommierten Referenten“ und zu den „neuesten KfO-Trends wie Brackets auf dem Laufsteg, Aligner-Hype und parodontaltherapeutische, funktionstherapeutische und präprothetische Aspekte“.

Bisher selten gerichtliche Verfahren

Haben Patienten aufgrund einer nicht fachgerechten Behandlung oralmedizinische Probleme, kommt es bisher selten zu gerichtlichen Verfahren. Grund sei einerseits, dass „manche Firmen ihre Kunden mundtot machen“ (Köning). Sie erhielten „aus Kulanz“ Geld zurück, dürften sich dafür aber nicht öffentlich äußern (soziale Medien, etc.). Im Zusammenhang mit einer BDK-Klage gegen einen gewerblichen Anbieter genügte es der Staatsanwaltschaft laut Köning, dass sie in den Firmenräumlichkeiten einen Zahnarzt antraf.

Die grundsätzliche Problematik bestätigte Dr. Kathrin Thumer, Justitiarin der LZK Nordrhein. Diese informiert aktuell Mitgliedspraxen über das Thema und will auch an die Öffentlichkeit gehen. Die Gewerbeaufsicht fühle sich im Beschwerde- oder Klagefall nicht zuständig, Zahnärztekammern seien wiederum nicht für Gewerbeunternehmen zuständig. Die LZK prüfe dennoch rechtliche Möglichkeiten. Thumer ergänzte, dass in diesem Zusammenhang unerlaubte Patientenzuführung oder der Bezug von Medizinprodukten nach Paragrafen 229a und 229b Strafgesetzbuch (Korruption) relevant werden könnten.

Ausblick

Ein ähnliches Geschäftsmodell wie die oben genannten Unternehmen hat zum Beispiel auch die Dentsply-Sirona-Tochter Byte, die bisher nur in USA und Australien am Markt ist. Align Technologies (Invisalign und Invisalign Go) wirbt seit Kurzem mit Schulungen für allgemein praktizierende Zahnärzte, mit denen das entsprechende Fachwissen gefördert werden soll. Nach Einschätzung von Rechtsanwalt Dr. Werner befinden sich die gewerblichen Aligner-Anbieter in der Entwicklungsphase, so dass hier noch einige Veränderungen zu erwarten seien. Er rief Zahnmediziner dazu auf, im eigenen und vor allem im Interesse ihrer Patienten „weiterzukämpfen“.

Dr. Jan H. Koch

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