Der Kommentar von Dr. Jan H. Koch
Klinische Empfehlungen beziehen sich in der Regel auf die Behandlung bereits vorhandener Erkrankungen. Präventive Maßnahmen sind dagegen in Leitlinien und Co. nur selten ein Thema. Mit Prävention ist dabei mehr gemeint als Fluoridierung oder Mundhygiene: Es geht auch um das Management von „Lebensstil“-Faktoren – je nach Erkrankung zum Beispiel Ernährung oder Rauchen.
Dass sich invasive und präventive Maßnahmen zusammen denken lassen, zeigen Anleitungen zur Kariesbehandlung. Insgesamt unterstützen Empfehlungen Mediziner und Patienten aber nur unzureichend. Und für eine effektive Gesundheitsförderung benötigen auch Politik und Organisationen strukturierte präventionsbezogene Informationen.
Präventionsforschung nicht lukrativ
Um präventive Konzepte zu entwickeln, fehlt es häufig an aussagekräftigen Studien. Das zeigte zum Beispiel die „IGeL“-Diskussion zur professionellen Prophylaxe („PZR“). Entsprechend wurde 2015 ein bereits geplanter Leitlinien-Workshop der europäischen parodontologischen Fachgesellschaften (EFP) zum Thema Gingivitis-Prävention auf dieses Jahr verschoben. Um an die Daten zu gelangen, wäre eine entsprechend priorisierte Forschung notwendig.
Besonders in der oralen Medizin hängt diese aber stark von der Drittmittelförderung ab – und große Teile der Industrie verdienen offenbar besser an Produkten für reparative Maßnahmen. Auch die gesetzliche Krankenversicherung blockiert präventive Ansätze, zum Beispiel wegen gegenläufiger Anreize im Risikostrukturausgleich.
Doch zurück zur konkreten Präventionsarbeit in der täglichen Praxis. Mit wissenschaftlich abgesicherten, einfach umsetzbaren Empfehlungen lässt sich diese erheblich erleichtern. Die Übersicht zum nicht-restaurativen Karies-Management enthält Ablauf-Schemata mit gut aufbereiteten, konkreten Informationen. Auch die Themen Kariesrisiko-Bestimmung, verhaltensbezogene Prävention und Erkrankungs-Management werden im Fließtext angemessen dargestellt. Leider sind sie aber nur unvollständig in die klinischen Ablauf-Schemata integriert.
Moderne Medizin muss ein Kreislauf sein
Wie könnte es besser gehen? Moderne Medizin muss ein Kreislauf sein, beginnend mit Prävention – wenn nötig gefolgt von minimal oder auch stärker invasiver Therapie – und schließlich Nachsorge. Auch diese sollte auf Prävention ausgerichtet sein, diesmal um eine erneute Erkrankung zu vermeiden. Nur ein integrierter klinischer Ansatz ist praxisgerecht. Deshalb sollte der oben skizzierte präventiv-therapeutische Kreislauf, soweit methodisch durchführbar, auch in klinischen Empfehlungen abgebildet sein.
Neue, methodisch hochwertige Leitlinien wollen erklärtermaßen auch Entscheidungsträger außerhalb der Heilberufe ansprechen. Das betrifft zentral Versorgungsfragen, also welche Maßnahmen versichert und erstattet werden sollten und welche nicht. Wünschenswert wären darüber hinaus medizinische Leitlinien zur Verhältnisprävention. Das sind gesellschaftsbezogene Maßnahmen wie Zuckersteuer, Werbeverbote und Förderung einer gesunden Ernährung – im Sinne eines kulturellen Umdenkens.
Unabhängiges Institution für Mundgesundheit
Solche integrierten, patientenorientierten Empfehlungen zu erstellen, ihre praktische Umsetzung zu fördern und auch wissenschaftlich zu überwachen, wäre Aufgabe von Einrichtungen der öffentlichen Gesundheit (Public Health), zum Beispiel des geplanten Bundesinstituts für öffentliche Gesundheit – oder besser einer bisher nur angedachten unabhängigen Institution für Mundgesundheit.
Diese könnte als Teil einer wahrhaft präventiv handelnden oralen Medizin viel bewirken – unabhängig von wirtschaftlichen Interessen. Diese haben leider bis heute Vorrang – auch in den Standesorganisationen. Prävention ist aus vielen Gründen ein großes Thema – und reicht als gesellschaftliche Aufgabe weit über den Praxisrahmen hinaus.