Oralmedizin kompakt – Kurz-Empfehlungen: Weltweit erste S3-Leitlinie zur Endodontie (Teil 1)
Für die Diagnose und Therapie einer Pulpitis gelten – auf Basis der im Januar 2023 verfügbaren Studiendaten – die unten gelisteten Empfehlungen [1].
Konzept und Methodik
Die European Society of Endodontology (ESE) hat in vier Arbeitsgruppen Empfehlungen für die Diagnose und Therapie von Pulpitis und apikaler Parodontitis entwickelt, einschließlich chirurgischer Wurzelkanalbehandlung und Tissue-Engineering. Der englischsprachige Volltext der Leitlinie und dafür genutzte systematische Übersichten sind frei zugänglich.
Die Empfehlungen sind nur zum Teil durch aussagekräftige Studien abgesichert. Sie wurden aber in breitem Konsens formuliert, mit allein 42 Experten aus der Endodontie sowie aus weiteren Fachgebieten und mit Patientenvertretern.
Die Leitlinie wurde nach den strengen Vorgaben der deutschen Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) entwickelt. Die DGZMK hat – analog zu den S3-Leitlinien der European Federation of Periodontology (EFP) – eine an deutsche Verhältnisse angepasste Version angemeldet (Publikation geplant für Ende 2026).
Diagnostik (R1.1) [2]
1. Pulpavitalität mit Kälte testen, gegebenenfalls ergänzt durch elektrische Stimulation.
2. Weitere Abklärung des Pulpazustands durch eine Kombination aus:
• Schmerzanamnese
• klinischen Befunden, darunter Vorhandensein einer freigelegten Pulpa, Empfindlichkeit gegenüber Perkussion und Schmerzen bei Hitzereizen.
3. Ob der Entzündungsstatus der Pulpa mit Biomarkern bestimmt werden kann, ist unklar.
Diagnostisches Ziel ist, das Pulpagewebe als gesund, entzündet oder nekrotisch einzustufen. Die Ausdehnung entzündeter oder nekrotischer Pulpa-Anteile lässt sich präoperativ in der Regel nicht feststellen.
Therapie (R2.1-R2.3) [3-5]
1. Bei pulpitischen Zähnen ohne oder mit nicht-spontanen Schmerzen und ohne Freilegung der Pulpa kann zwischen folgenden Optionen gewählt werden:
• Selektive oder schrittweise Kariesentfernung
2. Bei pulpitischen Zähnen ohne oder mit nicht-spontanen Schmerzen und mit Freilegung der Pulpa kann zwischen folgenden Optionen gewählt werden:
• Direkte Überkappung
• Partielle oder vollständige Entfernung der Kronenpulpa (Vitalamputation/Pulpotomie) Bei den Punkten 1. und 2. konnten für den Vergleich einzelner Methoden, soweit Daten verfügbar waren, keine signifikanten Unterschiede im Zahnüberleben ermittelt werden.
Für das langfristige Überleben eines Zahns gelten Methoden als „klinisch hoch relevant“, die den Erhalt von Zahnsubstanz und einer vitalen Pulpa ermöglichen. Eine Wurzelkanalbehandlung ist zudem teurer als eine partielle oder vollständige Pulpotomie.
3. Bei pulpitischen Zähnen mit spontanen Schmerzen kann zwischen folgenden Optionen gewählt werden:
• Vollständige Pulpotomie
• Wurzelkanalbehandlung
4. Bei Zähnen mit diagnostisch bestätigter nekrotischer Pulpa ist eine zeitnahe Wurzelkanalbehandlung indiziert.
Hygiene (R2.1)
Die nicht-chirurgische Behandlung einer freigelegten Pulpa und Pulpotomien sollte
• streng antiseptisch unter Kofferdam und mit antimikrobieller Spülung
• mit vergrößernden Sehhilfen und gutem Licht und
• unter Nutzung von hydraulischem Kalziumsilikatzement erfolgen [6].
Dr. Jan H. Koch, Freising
Hinweis: Beiträge in der Rubrik Oralmedizin kompakt sollen – auf der Basis neuer Erkenntnisse – die eigenverantwortliche klinische Entscheidungsfindung unterstützen. Bei redaktioneller Wiedergabe von Empfehlungen wird auf den Originaltext als allein gültige Referenz verwiesen.
Literatur
[1] Duncan HF, et al. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/iej.13974
[2] Donnermeyer D, et al. Int Endod J. 2023;56 Suppl 3:296-325. Epub 20220525. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/iej.13762
[3] Jakovljevic A, et al. Int Endod J. 2023;56 Suppl 3:340-54. Epub 20220525. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/iej.13776
[4] Tomson PL, et al. Int Endod J. 2023;56 Suppl 3:355-69. Epub 20221029. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/iej.13844
[5] Rossi-Fedele G, Ng YL. Int Endod J. 2023;56 Suppl 3:370-94. Epub 20221002. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/iej.13833
[6] European Society of Endodontology, et al. Int Endod J. 2019;52(7):923-34. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/iej.13080
Dr. Jan H. Koch
Dr. med. dent. Jan H. Koch ist approbierter Zahnarzt mit mehreren Jahren Berufserfahrung in Praxis und Hochschule. Seit dem Jahr 2000 ist er als freier Fachjournalist und Berater tätig. Arbeitsschwerpunkte sind Falldarstellungen, Veranstaltungsberichte und Pressetexte, für Dentalindustrie, Medien und Verbände. Seit 2013 schreibt Dr. Koch als fester freier Mitarbeiter für die dzw und ihre Fachmagazine, unter anderem die Kolumne Oralmedizin kompakt.
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