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Interview mit Moritz Kebschull: Parodontitis-Vermeidung kann Milliarden sparen

Interview: Prof. Dr. Moritz Kebschull zum Stellenwert parodontologischer Leitlinien

Am Rande des GBT Summits Mitte Juni 2023 in München sprach Dr. Jan H. Koch mit Prof. Dr. Moritz Kebschull, Lehrstuhlinhaber für Restaurative Zahnheilkunde an der Universität Birmingham (England), Leitlinienkoordinator bei der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie (DG Paro) und Präsident-elect der European Federation of Periodontology (EFP). Themen waren die aktuelle S3-Leitlinie zur Behandlung von Patienten mit fortgeschrittener Parodontitis (Stadium IV), die Akzeptanz der PAR-Richtlinie, diagnostische Fortschritte und Unterschiede in der zahnmedizinischen Ausbildung in England und in Deutschland. Die Fragen stellte Dr. Jan H. Koch.

Herr Professor Kebschull, was war im ­vergangenen Jahr die große Neuigkeit der EuroPerio 10?

Prof. Dr. Moritz Kebschull: Was die tägliche Praxis betrifft, sind das sicher die Therapieempfehlungen für das Stadium IV, also für eine weit fortgeschrittene Parodontitis [1]. Viele Kolleginnen und Kollegen taten sich bisher schwer, diese Patienten diagnostisch richtig einzuschätzen und zu behandeln. Damit das praxisgerecht gelingt, haben wir fünf Falldefinitionen erarbeitet, für die jeweils exemplarische Therapieabfolgen vorgeschlagen werden, zum Beispiel zu den Befunden aufgefächerte und elongierte Frontzähne oder gekippte Molaren. Damit haben wir zu diesen Themen erstmals evidenzbasierte fächerübergreifende Schlüsselempfehlungen mit zugleich praktischer Ausrichtung erarbeitet.

Insgesamt bringt das die EFP beim Thema oral­medizinische Leitlinien sicher weltweit an die Spitze. Zu den sehr zentralen prothetischen Aspekten waren aus dem deutschsprachigen Bereich die Professoren Nicola Zitzmann (Bern), Stefan Wolfart (Aachen) und ich selbst beteiligt. Da Experten aus vielen Fachgebieten und bestehende Leitlinien eingebunden werden mussten, war die Arbeit formal und in Bezug auf die praktische Ausformulierung recht aufwendig und auch kniffeliger als bei der Leitlinie zu den Stadien I bis III. Die europäische Leitlinie wird aktuell an deutsche Verhältnisse angepasst, und wir sind sicher, dass sich unser Werk im Sinne eines Handlungsrahmens klinisch gut umsetzen lässt.

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Probleme bei der Umsetzung von Leitlinien, auch mit Blick auf die aktuellen ­parodontologischen?

Kebschull: Bei der Betrachtung unserer Leitlinien sollten wir daran denken, dass ihnen eine stark reglementierte Betrachtung der aktuellen Evidenz durch eine große und diverse Leitliniengruppe zugrunde liegt. Diese beurteilt, wie „sicher“ wir uns dar­in sind, dass eine Intervention einen klinischen und auch aus Patientensicht relevanten Effekt hat. Auf dieser „Sicherheit“ basiert die Stärke der festgehaltenen Empfehlung. Viele Leserinnen und Leser, auch aus der Industrie, finden diese Herangehensweise zunächst schwer verständlich. Aber ich will das ganz deutlich sagen: Nein, die Leitlinie „verbietet“ gar nichts, sondern spricht höchstens negative Empfehlungen aus.

Jeder Patient und Behandlungsfall ist anders, und nicht alle werden durch den Mittelwert der Statistik adäquat dargestellt. Daher sollte der schon angesprochene „klinische gesunde Menschenverstand“ nicht ausgeschaltet werden – Leitlinien müssen nicht sklavisch und ohne Reflexion umgesetzt werden!

Mann mit Bart im Poloshirt hält Handspitzen gegeneinander

Prof. Dr. Moritz Kebschull, hier während eines Vortrags zum Thema Leitlinien auf dem GBT Summit von EMS am 17. Juni in München

Sind die umfangreichen neuen Regelwerke – in Bezug auf Deutschland die Klassifikation, die S3-Leitlinie für die Stadien I bis III und die PAR-Richtlinie – schon in der Praxis angekommen?

Kebschull: Ich denke, ziemlich gut. Auf der einen Seite haben wir eine neue Parodontitisklassifikation, die mit einem einfachen Algorithmus die Einteilung nach Ausdehnung, Schweregrad und Progression erlaubt. Nach einer gewissen Umgewöhnung ist das gar nicht so schwer – und viel eindeutiger als die oft aus dem Bauch heraus erfolgte Einteilung nach aggressiver und chronischer Form. Als Hilfe für die praktische Umsetzung der Klassifikation gibt es verschiedene Apps, zum Beispiel von der DG Paro oder in Form von parostatus.de. Die Einstufung gelingt mithilfe des publizierten Algorithmus nach meiner Erfahrung schon sehr gut [2, 3]. Allerdings ist es mit einer App alleine nicht getan, da fehlt oft der „gesunde klinische Menschenverstand“.

Sehr hilfreich für die tägliche Arbeit sind die EFP-Leitlinien, die bisher weitgehend in die deutschen Versionen übernommen wurden. Bald gibt es auch in Deutschland drei dieser freundlichen kollegialen Empfehlungen, die dritte zum Thema Mukositis und Periimplantitis. Durch die internationale Zusammenarbeit konnten wir viel mehr erreichen, als wenn jede nationale Gesellschaft ihr eigenes Süppchen gekocht hätte.

In vielen Ländern haben die Leitlinien bereits zu geänderten Behandlungsvorschriften geführt. In Deutschland war das die PAR-Richtlinie, über die viele Kolleginnen und Kollegen zunächst viel geschimpft haben. Danach lief es super – bis die in diesem Jahr gestartete Budgetierung leider viele Fragen aufgeworfen hat.

Ist für die EFP auch die primäre Prävention wichtig, also die Vorbeugung und Früherkennung der Gingivitis? Wann kommt ­eine Leitlinie zu diesem Thema?

Kebschull: Selbstverständlich ist auch die primäre Prävention sehr wichtig. Gingivitis ist als Vorstufe der Parodontitis noch reversibel. Wird Parodontitis durch Gingivitismanagement vermieden, lassen sich nach einer ökonomischen Analyse in sechs europäischen Ländern Milliarden von Euro an oralmedizinischen Versorgungskosten sparen [4]. Im schwieriger messbaren Bereich der „Allgemeinerkrankungen“ könnte der Effekt sogar noch um ein Vielfaches höher sein.

Wenn wir neben der Parodontitis auch die Karies als die zwei wesentlichen oralen Erkrankungen integrieren – das ist ein Fokus der aktuellen Arbeit mit der renommierten Wirtschaftszeitung „Economist“ –, dann umso mehr! Dabei geht es sowohl um die direkten und indirekten Effekte oraler Erkrankungen als auch um den Zugang für Patientinnen und Patienten – und was eine Verbesserung dieses Zugangs bewirken könnte. Leider gibt es auf der Insel, aber zum Beispiel auch in Spanien und in Zeiten des Budgets vielleicht auch bald in Deutschland, zurzeit große Probleme mit der öffentlichen Primärversorgung, unter anderem durch die massive Abwanderung von Zahnärzten in den privaten Bereich. Patienten haben also häufig keine Chance, entsprechend versorgt zu werden – jedenfalls nicht „auf Kasse“.

Eine EFP-Leitlinie zum Thema Primärprävention ist noch nicht auf der Tagesordnung, dazu gab es vor einigen Jahren aber schon einen Konsensus-Workshop. Zu klären wäre dafür zum Beispiel, wie auch die sekundäre Prävention nach einer Therapie, aber auch Methoden der primären und sekundären Diagnostik integriert werden können.

Stichwort Diagnostik: Sind inzwischen praxisreife Methoden verfügbar, mit denen Risiko­pa­tienten möglichst vor einer ­Erkrankung identifizierbar sind?

Kebschull: Von den bakteriellen Tests sind in den vergangenen Jahren viele vom Markt verschwunden. In der Industrieausstellung der letztjährigen EuroPerio 10 in Kopenhagen wurde ein neues diagnostisches Konzept vorgestellt, an dessen Entwicklung ich über mehrere Forschungsprojekte beteiligt bin – gerade ist das entsprechende Patent durchgekommen. Es fasst synoptisch eine Reihe von Faktoren zusammen, darunter den Dysbiosegrad und die Diversität des Mikrobioms. Hinzu kommt die Analyse einer großen Anzahl mutmaßlich pathogener Keime.

Möglich ist dies durch sogenannte fokussierte Shotgun-Sequenzierung, die mit speziellen Großgeräten erfolgt. Mit dieser Methode wird versucht, die aussagekräftigsten Marker (Prädiktoren) zu ermitteln. Ziel der Analysen ist eine Risikostratifizierung, also eine bessere Erkennung vor allem von Risikopatienten. Eine prospektive Studie unter anderem in deutschen Praxen läuft zurzeit, ein Produkt (PadoBiom, IAI) ist bereits seit Oktober vergangenen Jahres in Deutschland erhältlich.

Thema parodontologische ­Ausbildung: Gibt es in England andere und bessere Konzepte als bei uns in Deutschland?

Kebschull: Speziell in Birmingham ist die Ausbildung stark präventiv ausgerichtet, außerdem sind die Studierenden viel früher am Patienten tätig. Bei uns führen entsprechend qualifizierte Studierende im fünften Jahr des Regelstudiums zum Beispiel regenerative parodontalchirurgische Eingriffe durch. Nach dem Examen bieten wir neben den gängigen Masterkursen einjährige postgraduale Kurse an, die neben der Praxistätigkeit besucht werden können (Postgraduate Certificate, PG Cert). Dabei üben die Teilnehmer nicht wie in Deutschland nur an Schweinekiefern, sondern therapieren unter Aufsicht zum Beispiel ihre eigenen Patienten.  

Das Studium in England ist insgesamt praktischer ausgerichtet, mit früher einsetzenden und zeitlich umfangreicheren Patientenkursen. Hinzu kommt, dass unsere Studierenden ihre Patienten nach einem integrierten Behandlungsplan semesterübergreifend behandeln.

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Dr. Jan H. Koch

Dr. med. dent. Jan H. Koch ist approbierter Zahnarzt mit mehreren Jahren Berufserfahrung in Praxis und Hochschule. Seit dem Jahr 2000 ist er als freier Fachjournalist und Berater tätig. Arbeitsschwerpunkte sind Falldarstellungen, Veranstaltungsberichte und Pressetexte, für Dentalindustrie, Medien und Verbände. Seit 2013 schreibt Dr. Koch als fester freier Mitarbeiter für die dzw und ihre Fachmagazine, unter anderem die Kolumne Oralmedizin kompakt.

Mitglied seit

7 Jahre 2 Monate

Literatur


[1] Herrera D, Sanz M, Kebschull M, et al. Treatment of stage IV periodontitis: The EFP S3 level clinical practice guideline. J Clin Periodontol. 2022;49(S24):4-71. 
[2] Tonetti MS, Greenwell H, Kornman KS. Staging and grading of periodontitis: Framework and proposal of a new classification and case definition. J Periodontol. 2018;89 Suppl 1:S159-S72.  
[3] DG Paro, DGZMK. Die Behandlung von Parodontitis Stadium I bis III. AWMF-Registernummer: 083-043. Stand: Dezember 2020. Gültig bis: November 2025.
[4] The Economist Intelligence Unit. Time to take gum disease seriously. The societal and economic impact of periodontitis. 2021.