Korrekte Diagnostik kann anspruchsvoll sein: Zunehmend Schnittstellen zu restaurativer und funktioneller Therapie
Orthodontische Schienen zur alveolären Zahnkorrektur bei Erwachsenen (Aligner) werden in immer mehr Praxen verwendet und sind auch wirtschaftlich interessant. Im Fokus stehen meist einfachere Maßnahmen ohne Bisslage- und andere komplexe Korrekturen. Behandelt werden neben gedrehten und gekippten Einzelzähnen Engstände und andere Disharmonien im Frontzahnbogen einschließlich Tief- oder isolierten Kreuzbiss-Situationen (siehe Übersicht weiter unten). Die Korrekturen erfordern eine Simulation des gewünschten Endergebnisses mit geeigneter Software oder anhand von Modellen (Abbildung 1).
Erreichen lassen sich die gewünschten Umstellungen entweder allein mit Schienen oder durch die zusätzliche Verwendung von „Attachments“, die in die Schienen integriert oder auf die Zähne geklebt werden. Daneben nutzen einige Systeme Schrauben, mit denen einzelne Zähne bewegt oder Kieferbögen erweitert werden können (Dr. Hinz Aligner, Clear Aligner; Abbildungen 2 bis 5). Zu den Hilfsmitteln für fortgeschrittene Indikationen gehören intermaxilläre Gummizüge oder skelettale Verankerungen mit kortikalen Schrauben oder Implantaten.
Begrenzte Wirksamkeit
Die Wirksamkeit von Aligner-Behandlungen wird auf der Basis unvollständiger Daten kritisch eingeschätzt. Das gilt allgemein im Vergleich zu festsitzenden Methoden und in Bezug auf spezielle Befunde, darunter Rotation bestimmter Zähne und Klasse-II-Verzahnung [1–4]. Bei bukko-lingualer Kippung lag die Übereinstimmung mit dem geplanten Ergebnis bei durchschnittlich 56 Prozent, bei Rotationen nur bei 46 Prozent [1]. Dies gilt für Invisalign, das System des Marktführers Align Technology. Andere Produkte, für die meist keinerlei Studien vorliegen, sind vermutlich nicht signifikant erfolgreicher. Ob neu eingeführte modifizierte Materialien zu beseren Resultaten führen oder die Behandlung angenehmer machen, bleibt abzuwarten (Abbildungen 6 und 7).
Gemessen an der steigenden Nachfrage und ermittelter Patientenzufriedenheit erscheint die Methode bei korrekter Indikationsstellung grundsätzlich geeignet [5]. Experten betonen jedoch, dass Behandlungen „einen überraschenden, ungewollten Verlauf“ nehmen können [6]. Häufig fehlten „Grundkenntnisse der kieferorthopädischen Therapieprinzipien“, und Computersimulationen könnten anatomische und physiologische Faktoren nicht erfassen. Dazu gehören die Verankerungssituation oder Besonderheiten des Kiefergelenks [6]. Auf der Seite eines renommierten Anbieters wird beispielsweise ausgeführt, dass Kunden (Zahnärzte) „ihre detaillierten Präferenzen angeben oder sich einfach auf das Fachwissen der Techniker verlassen“ können.
Spezialisten verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass bei Patienten mit bereits vorhandenen Funktions- und CMD-Problemen diese zuerst therapiert werden müssten. Inwieweit diese Probleme als Folge fehlerhafter Aligner-Behandlung auftreten können, ist nicht geklärt. In Falldarstellungen ist jedoch nicht selten eine inkorrekte posteriore Verzahnung erkennbar. Kieferorthopädische Software erlaubt es bisher nicht, die Funktion in der Planung zu berücksichtigen (Dr. Werner Schupp, Köln) [7]. Schmerzen können unabhängig davon auftreten, wenn das Tragen der Schienen unterbrochen wird und dadurch erhöhte Kräfte wirken (persönliche Mitteilung Prof. Dr. Rolf Hinz).
Einige Anbieter von Aligner-Therapie-Systemen und -Dienstleistungen, zum Beispiel Straumann, Dentsply Sirona und Ilovemysmile, fahren zweigleisig und haben sowohl praxis- als auch internetgestützte Systeme im Programm (siehe Anbieter-Statements). Werden Patienten ohne Beteiligung berufsrechtlich belangbarer Zahnärzte angesprochen, hat die Bundeszahnärztekammer rechtliche Einwände (siehe Statement Dr. Schinnenburg). Bei allen berechtigten Mahnungen ermöglicht die Aligner-Therapie allgemein praktizierenden Zahnärzten, eigene kieferorthopädische Kenntnisse zu erweitern und den interdisziplinären Austausch mit Spezialisten zu verstärken. Dies kann nicht nur Behandlungsergebnisse verbessern oder neue Konzepte eröffnen, sondern zum Beispiel durch Überweisungen auch für beratende Kieferorthopäden interessant sein.
Indikationen nach Kompetenz
Die Schwierigkeit einer Alignertherapie lässt sich grob in drei Kategorien unterteilen: einfache Korrekturen für alle Zahnärzte, fortgeschrittene Korrekturen für Kieferorthopäden und komplexe Korrekturen mit chirurgischen Behandlungsschritten für Spezialisten. Auf der Basis von Fallberichten und Fachbüchern zu den Systemen Clear Aligner (Scheu Dental) und Invisalign (Align Technology) lassen sich folgende Indikationen beschreiben und Kompetenzstufen* zuordnen [8, 9]:
A. In der Regel mit gezielter Fortbildung ohne Spezialisierung möglich
• Korrektur oro-vestibulärer Kippungen im Frontzahnbereich
• Rotationskorrektur im Frontzahnbereich
• Lückenschluss bis 4 mm
• Engstandkorrektur 4 bis 6 mm pro Zahnbogen
• Tiefbisskorrektur (ohne Bisslagenveränderung)
• Isolierte alveoläre Kreuzbisse
B. Nicht oder nur mit erhöhtem Aufwand und entsprechendem Fachwissen möglich (Kieferorthopäden)
• Lückenschluss über 4 mm
• Engstandkorrektur über 4 bis 6 mm pro Zahnbogen
• Rotationskorrektur im Seitenzahnbereich
• Extrusion/Intrusion einzelner Seitenzähne und von Kiefersegmenten
• Kreuzbisskorrektur mit negativer Kronenneigung
• Korrektur offener Bisse
• Behandlungen mit Extraktionstherapie
• Behandlung der Klassen II und III (Erwachsene)
• Behandlung der Klassen II und III (erste und zweite Wechselgebiss-Phase)**
• Behandlung von Patienten mit parodontalem Knochenabbau
C. Chirurgische Bisslagekorrekturen und Kombinationsbehandlungen zum Beispiel mit Implantaten (Kieferorthopäden interdisziplinär mit Kieferchirurgen)
*Die genannten Indikationen und Kompetenzstufen sind nicht durch publizierte Studien und konsentierte Empfehlungen abgesichert.
**Diese sind mit einfachen kieferorthopädischen Geräten deutlich kostengünstiger und sicherer erreichbar.
Wie der Übersicht zu entnehmen ist, erlauben Aligner auch komplexe Behandlungen, die in spezialisierten Praxen durchgeführt werden. In aller Regel sind für diese unterstützend festsitzende Apparaturen beispielsweise Multiband und extraorale Geräte notwendig [8–10]. Infrage kommende Patienten sollten im Zweifelsfall an einen Spezialisten überwiesen werden.
Im Wechselgebiss (noch) nicht relevant
Neu ist eine Erweiterung des Invisalign-Systems für die kieferorthopädische Behandlung von Kindern und Heranwachsenden (Invisalign First, siehe Bericht in dzw Nr. 30–31/2020, S. 10–12). Damit sind laut Anbieter Klasse-II- und -III-Behandlungen bereits ab der ersten Wechselgebissphase möglich. Zum Beispiel sollen Gruppen von Molaren und Frontzähnen der ersten Dentition als Widerlager für die Distalisierung bleibender Molaren dienen und zugleich mit bewegt werden. Studien sind bisher nur sehr begrenzt verfügbar [11, 12].
Da sie von der gesetzlichen Versicherung nicht erstattet werden, spielen Aligner zumindest in Deutschland in den Wechselgebissphasen schon aus ökonomischen Gründen keine Rolle. Erwähnt werden muss auch, dass Aligner-Behandlungen häufig eine hohe Zahl von Schienen erfordern, die zum Teil in mehreren Serien angewendet werden und damit relativ hohe Kosten verursachen. Schließlich ist auf den großen Materialverbrauch für Schienen und die Modelle für deren Herstellung hinzuweisen.
Das Lächeln designen
Viele Stellungskorrekturen von Frontzähnen bei Erwachsenen sind – ebenso wie die häufig damit kombinierten Bleichbehandlungen – rein ästhetisch motiviert. Ähnlich wie in der übrigen Kieferorthopädie können sie aber zusätzlich funktionelle Verbesserungen erzielen. Als Gegenpol zu potenziellen Problemen lässt sich zum Beispiel durch gezieltes Einschleifen von Alignern parallel eine gestörte Okklusion korrigieren (persönliche Mitteilung Prof. Dr. Oliver Ahlers). Der Hamburger CMD-Experte verweist zudem darauf, dass Funktionsprobleme bei Aligner-Patienten auch auf bereits vorhandenen Fehlstellungen beruhen können.
Eine weitere medizinische Aligner-Indikation sind Lückenerweiterungen und Harmonisierungen, die eine restaurative Maßnahme vorbereiten (Präprothetik). Das Invisalign-System lässt sich zum Beispiel mit einer ästhetischen Analyse nach dem Digital Smile Design kombinieren [10, 13]. Perspektivisch sollten sich mit geeigneter Software auch digitale funktionsdiagnostische und Implantatplanungs-Systeme einbinden lassen. So kündigt Align Technology an, dass durch rechnergestützte Auswertung anonymisierter Patientendaten (künstliche Intelligenz) zunehmend ästhetische Proportionen, aber auch Zahnbewegungen mit Aligner-Schienen optimierbar sein werden. Die groß angelegte Nutzung von Patientendaten durch externe Dienstleister wird jedoch von Zahnärzten und Kieferorthopäden, die Schienen in eigener Regie designen, kritisch gesehen (zum Beispiel Dr. Werner Schupp) [7].
Fazit
Aligner-Therapie kann einfach und schnell funktionieren und bietet in Verbindung mit festsitzenden Apparaturen vielfältige Möglichkeiten. Das gilt aber nur, wenn die Indikation korrekt gestellt wird. Eine fachgerechte Behandlung erfordert neben Modellen weitere Befunde und damit eine physische Untersuchung. Diagnostische Fragen können nach Expertenmeinungen auch dann nicht sicher abgeklärt werden, wenn eine virtuelle Beratung durch Kieferorthopäden gewährleistet ist. Im Zweifel ist eine Überweisung in eine Spezialpraxis angezeigt – und sei es nur, um den Schwierigkeitsgrad vor einer Therapie korrekt abzuklären.
Dr. Jan H. Koch
Hinweis: Beiträge in der Rubrik OralMedizin kompakt können nicht die klinische Einschätzung des Lesers oder der Leserin ersetzen. Sie sollen lediglich – auf der Basis aktueller Literatur und/oder von Experten-Empfehlungen – die eigenverantwortliche Entscheidungsfindung unterstützen.
Literatur
[1] Haouili N, Kravitz ND, Vaid NR, Ferguson DJ, Makki L. Has Invisalign improved? A prospective follow-up study on the efficacy of tooth movement with Invisalign. American Journal of Orthodontics and Dentofacial Orthopedics 2020;158:420-425.
[2] Papageorgiou SN, Koletsi D, Iliadi A, Peltomaki T, Eliades T. Treatment outcome with orthodontic aligners and fixed appliances: a systematic review with meta-analyses. European journal of orthodontics 2019;42:331-343.
[3] Patterson BD, Foley PF, Ueno H, Mason SA, Schneider PP, Kim KB. Class II malocclusion correction with Invisalign: Is it possible? American Journal of Orthodontics and Dentofacial Orthopedics 2021;159:e41-e48.
[4] Robertson L, Kaur H, Fagundes NCF, Romanyk D, Major P, Flores Mir C. Effectiveness of clear aligner therapy for orthodontic treatment: A systematic review. Orthodontics & Craniofacial Research 2020;23:133-142.
[5] Pacheco-Pereira C, Brandelli J, Flores-Mir C. Patient satisfaction and quality of life changes after Invisalign treatment. American journal of orthodontics and dentofacial orthopedics : official publication of the American Association of Orthodontists, its constituent societies, and the American Board of Orthodontics 2018;153:834-841.
[6] Radlanski RJ. Möglichkeiten und Grenzen der Alignertherapie. Quintessenz 2020;71:662-675.
[7] Quintessence Publishing. Updates on Aligner Orthodontics. Facebook webinar powered by Zoom, 2020_10_8. With presentations by Radlanski RJ, Schupp W, Tai S. 2020. bit.ly/32XdseR
[8] Echarri P, Perez Campoy MA, Pernera M. Clear Aligner Advanced: Ladent, 2016.
[9] Tai S. Alignertherapie: Quintessence Publishing Deutchland, 2019.
[10] Pinho T, Rocha D. Ideales und adaptiertes Digital Smile Design während der Alignertherapie bei multidisziplinären Fällen. Int J Esthet Dent 2020;15:144-160.
[11] Caruso S, Nota A, Caruso S, Severino M, Gatto R, Meuli S, et al. Mandibular advancement with clear aligners in the treatment of skeletal Class II. A retrospective controlled study. Eur J Paediatr Dent 2021;22:26-30.
[12] Haubrich J, Schupp W. Invisalign-Behandlung bei Kindern zur Lückenöffnung und Vermeidung von potenziellen Extraktionsbehandlungen. Kieferorthopädie 2019;33:377-385.
[13] Coachman C, Sesma N, Blatz M. Int J Esthet Dent 2021;16:34-49.
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