Paro-Empfehlungen mit neuem GKV-Konzept weitgehend umsetzbar
In der Parodontologie gibt es seit 2018 eine neue Klassifikation und seit diesem Jahr klinische Leitlinien [1]. Diese sind für die meisten Patientenfälle gültig und auf deutsche Versorgungsverhältnisse abgestimmt. Wie die Empfehlungen praktisch umsetzbar und in den neuen Bema-Positionen berücksichtigt sind, erklärten am 4. und 5. Juni renommierte Experten vor knapp 1.000 Teilnehmern. Die Online-Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie (DG Paro) war damit für den klinischen Alltag hoch relevant. Die Vorträge können noch bis zum 30. September abgerufen werden, die Anmeldung ist online bis zum 31. Juli möglich.
Prof. Dr. Dr. Sören Jepsen (Universität Bonn) verwies einleitend darauf, dass nach der Initialtherapie und auch langfristig keine Taschen über 4 mm verbleiben sollten. Dieses Ziel sei nicht immer zu erreichen, aber Resttaschen hätten sich als wichtigster prognostischer Befund für Zahnverluste erwiesen [2]. Jepsen und Prof. Dr. Bettina Dannewitz betonten, dass die neuen Bema-Positionen und verknüpfte Richtlinien für Patientenaufklärung, Diagnostik und unterstützende Parodontitis-Therapie eng mit der aktuellen Leitlinie abgestimmt sind.
Interessenkonflikte berücksichtigt, Patienten integriert
Hintergründe zur deutschen S3-Leitlinie Parodontologie (Progressions-Stadien I-III) [1] lieferte der 2018 an die englische Universität Birmingham berufene Parodontologe Prof. Dr. Moritz Kebschull:
- S3-Leitlinien repräsentieren das höchste Niveau und integrieren wissenschaftliche Evidenz und Empfehlungsqualität.
- Die Empfehlungsqualität (soll/sollte/kann/sollte nicht/soll nicht) hängt auch von der klinischen Relevanz ab.
- Eine Methode ist möglicherweise effektiv, das gleiche Ergebnis aber mit einfacheren und preisgünstigeren Methoden erreichbar.
- Leitlinien-Autoren, so auch Prof. Kebschull, durften wegen möglicher Interessenkonflikte bei einzelnen Therapie-Empfehlungen nicht abstimmen.
- An der aktuellen S3-Leitlinie war neben zahlreichen medizinischen Fachgesellschaften die Bundesarbeitsgemeinschaft der Patientenstellen und -Initiativen (BAGP) als Patientenorganisation beteiligt.
Biofilm ist nur Risikofaktor
Patienten über die Ursachen und Folgen von Parodontitis aufzuklären, ist wesentlicher Bestandteil der Behandlungsstrecke und wird erstmals auch mit entsprechenden Positionen honoriert (Bema-Nr. ATG). Dazu gehört zentral, Patienten individuell abgestimmte Hilfsmittel zu empfehlen und sie in geeigneten Methoden zu schulen (Bema-Nr. MHU). Der KZBV-Vordruck, mit dem Patienten über Befunde und daraus abgeleitete Empfehlungen informiert werden sollen, ist ebenso wie angepasste digitale Dokumentations-Hilfsmittel noch nicht verfügbar.
Prof. Dr. Christoph Dörfer (Kiel) fasste zusammen, dass Plaque (Biofilm) an sich keine nachgewiesene Ursache für Parodontitis sei. Vermehrter Biofilm infolge schlechter Mundhygiene sei aber ein wichtiger Risikofaktor [3]. Trotz schwacher Evidenz bestehe deshalb große Einigkeit, dass Biofilm-Entfernung die Basis für sowohl primäre als auch sekundäre Prävention ist [1, 4]. Weitere risikobezogene Maßnahmen wie Rauchentwöhnung sollten Oralmediziner nur durchführen, wenn sie entsprechende Kenntnisse und Erfahrung haben. Hintergrund ist laut Dörfer das höhere Misserfolgsrisiko, wenn ein erster Entwöhnungsversuch scheitert. Die exakte Hierarchie von Risikofaktoren sei noch ungeklärt, insbesondere in Bezug auf den individuellen Patienten.
Bema-Positionen – Erläuterungen, Vorträge, Videos
Rahmeninformationen und Details zu den neuen Leistungspositionen fassen folgende Beiträge der KZBV und auf dzw.de zusammen:
PAR-Richtlinie bei der KZBV
PAR-Richtlinie: Die neuen Bema-Positionen
In einem Video erklären die DG Paro-Präsidentin Prof. Dr. Bettina Dannewitz, die KZBV-Repräsentanten Dr. Wolfgang Eßer und Martin Hendges und Prof. Josef Hecken vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) ausführlich fachliche und versorgungspolitische Hintergründe zum Paro-Konzept. Weitere Erklär-Videos zu Abrechnungsdetails sind für „die nächsten Wochen“ angekündigt.
Im Rahmen der DG Paro-Jahrestagung lieferte ein zweistündiges Symposium von CP Gaba detaillierte Infos zur UPT als Bestandteil der PAR-Richtlinie. (Registrierung notwendig)
Eierlegende Wollmilchsau
Auf Diagnostik, Aufklärung und Risikofaktoren-Management folgt bei Bedarf die antiinfektiöse Therapie, primär als subgingivale Instrumentierung (Bema-Nr. AIT). Dr. Stefanie Kretschmar, postgraduiert in den USA und niedergelassen in Ludwigsburg, bezeichnet diese wegen ihres umfassenden Effekts als „eierlegende Wollmilchsau“. Laut Leitlinie reduzieren dabei maschinelle und manuelle Verfahren die Taschentiefen gleichermaßen erfolgreich. Dies gelte auch, wenn anschließend Biofilm und Konkremente verbleiben. Eine starke Reduktion genüge in der Regel, um dysbiotische in symbiotische Verhältnisse zu überführen. Die häufig praktizierte Kombination von zum Beispiel Ultraschall und Handinstrumenten sei nicht erforderlich, beide Methoden funktionierten auch für sich allein. Entscheidend seien Lernkurve und individuelle Vorlieben.
Praxis-Tipp: Bei den Handinstrumenten kommt Stefanie Kretschmar in den meisten Fällen mit den Küretten 7/8, 11/12 und 13/14 und der Sonde EXD 11/12 aus (Standard-Tray).
Bei eingeschränkter Biofilm-Kontrolle „können“ ergänzend lokale Antiseptika oder Antibiotika eingesetzt werden. Beide Interventionen haben einen geschätzten zusätzlichen Effekt zwischen 10 und 30 Prozent, wobei Kosten und bei Antibiotika Resistenzfragen zu berücksichtigen seien. Eine Reihe weiterer „adjuvanter“ Therapie-Methoden lehnt die Leitlinie wegen nicht nachgewiesener Wirksamkeit ab („sollte nicht“ verwendet werden).
Etwas überraschend „können“ auch systemische Antibiotika nur in ausgewählten Fällen eingesetzt werden, primär bei jungen Erwachsenen mit rascher Progression. In den meisten Fällen werden sie wegen unzureichendem Nutzen bei zu hohem Risiko abgelehnt. Der Baseler Hochschullehrer Prof. Dr. Clemens Walter betonte in dem Zusammenhang, dass sich die Virulenz von Mikroorganismen mit Tests nicht unterscheiden lasse und ihr Einsatz deshalb selten sinnvoll sei. Vermutlich sei die Frage wichtiger, wie virulent welcher Keim bei welchem Patienten ist. Wie bei den Risikofaktoren lässt sich dies diagnostisch aktuell nicht beantworten.
Chirurgie – wann und wie
Konkremente in tiefen Resttaschen und Furkationen sind mit geschlossener Instrumentierung häufig nicht erfolgreich entfernbar. Chirurgische Maßnahmen erfolgen in diesen Fällen so wenig invasiv wie möglich und lokale Entzündung sollte vor Eingriffen maximal kontrolliert werden (während der Tagung genannte Expertenempfehlungen). Resektive Parodontologie erhielt dagegen – mit Rücksicht auf ästhetische Belange – eine klare Empfehlung (Leitlinie, Punkt 6.3). Details zu verschiedenen chirurgischen Techniken einschließlich regenerativer Maßnahmen, Hemisektion und Tunnelierung enthalten mehrere Vorträge ausgewiesener Experten aus Hochschule und Praxis, die online abrufbar sind.
Stufen 2 und 4 als Zwillinge
Parodontitis ist für die meisten Patienten ein lebenslanges Thema [5]. Obwohl diese ein entsprechend langfristiges Recall benötigen, erlauben die neuen Richtlinien die Abrechnung der UPT nur für zwei Jahre nach Abschluss der aktiven Parodontaltherapie, mit Option auf Verlängerung um ein weiteres halbes Jahr. Als Methoden für die professionelle Belagentfernung sind laut PD Dr. Christian Graetz (Universität Kiel) grundsätzlich dieselben wie für die Initialtherapie geeignet. Handelt es sich primär um leicht entfernbaren Biofilm, eigneten sich aber auch Airpolishing-Systeme (Airflow). Implantate werden in der UPT im Prinzip wie Zähne instrumentiert, lediglich angepasst an die abweichende Oberfläche.
Diagnostisch sind laut Graetz Sondierungsblutungen das wichtigste Kriterium, sehr hilfreich sei die bewährte Berner Spinne in Kombination mit neuen Empfehlungen für das Recall-Intervall, das auch in einem Online-Tool ermittelbar ist [6]. Beide Methoden stimmten jedoch in einer Studie der Universität Frankfurt am Main nur schwach überein [7]. Neben weiteren Parametern muss nach den neuen Bema-Richtlinien in jeder UPT-Sitzung nach dem HbA1c-Wert gefragt und dieser dokumentiert werden.
Die Ausgestaltung der UPT ist laut Graetz sehr individuell. Auch die neue Leitlinie diene nur als Orientierung, die fallweise an Befunde, Patientenpräferenzen und Praxisgegebenheiten angepasst werden müsse („keine Leitplanke, da kann man nicht ausweichen“). Bei grundsätzlichen Abweichungen und Off-Label-Verwendung von Methoden sei aber eine gute Dokumentation zu empfehlen.
Fazit
Dem selbst gewählten Motto „Wissenschaft für die Praxis“ wurde die Jahrestagung in vorbildlicher Weise gerecht. Neben Vorträgen mit Fokus auf der umfangreichen Leitlinie und ihren Hintergründen gab es anschauliche Vorträge von Praktikern, mit Patientenbeispielen und daraus abgeleiteten Tipps. Auch diese hatten immer einen Bezug zu Leitlinien – und sei es der Verweis auf noch fehlende Evidenz und den entsprechenden Behandlungsspielraum. Nicht thematisiert wurde, dass die neuen Bema-Positionen (bisher) nur die ersten zwei Jahre einer meist lebenslangen Erkrankung abdecken.
Geleitet wurde die Online-Veranstaltung von Prof. Dr. Henrik Dommisch (Berlin) und Dr. Christina Tietmann (Aachen). Jederzeit erkennbar war die enge Zusammenarbeit und auch die seit Jahren tragende Aufbruchstimmung in der deutschsprachigen Parodontologie-Szene. Dass sich diese Energie mithilfe des neuen GKV-Konzepts – trotz noch einiger offener Fragen – in deutsche Praxen überträgt, ist auch im Patienteninteresse sehr zu wünschen.
Dr. Jan H. Koch
Hinweis: Im Bericht genannte behandlungsbezogene Empfehlungen beruhen auf Informationen aus den Vorträgen und unterliegen möglichen Irrtümern bei der Wiedergabe. Sie können in keinem Fall die klinische Einschätzung der Leserin oder des Lesers ersetzen und müssen eigenverantwortlich geprüft werden (siehe auch Literaturliste).
Literatur
[1] DG Paro Deutsche Gesellschaft für Parodontologie e. V., DGZMK Deutsche Gesellschaft für Zahn- M-uK. Die Behandlung von Parodontitis Stadium I bis III. Die deutsche Implementierung der S3-Leitlinie „Treatment of Stage I–III Periodontitis“der European Federation of Periodontology (EFP). AWMF-Registernummer: 083-043. Stand: Dezember 2020. Gültig bis: November 2025. 2021.
[2] Matuliene G, Pjetursson BE, Salvi GE, Schmidlin K, Bragger U, Zwahlen M, et al. Influence of residual pockets on progression of periodontitis and tooth loss: results after 11 years of maintenance. J Clin Periodontol 2008;35:685-695.
[3] Lertpimonchai A, Rattanasiri S, Arj-Ong Vallibhakara S, Attia J, Thakkinstian A. The association between oral hygiene and periodontitis: a systematic review and meta-analysis. Int Dent J 2017;67:332-343.
[4] Tonetti MS, Chapple ILC, Jepsen S, Sanz M. Primary and secondary prevention of periodontal and peri-implant diseases. J Clin Periodontol 2015;42:S1-S4.
[5] Caton JG, Armitage G, Berglundh T, Chapple ILC, Jepsen S, K SK, et al. A new classification scheme for periodontal and peri-implant diseases and conditions - Introduction and key changes from the 1999 classification. J Periodontol 2018;89 Suppl 1:S1-S8.
[6] Ramseier CA, Nydegger M, Walter C, Fischer G, Sculean A, Lang NP, et al. Time between recall visits and residual probing depths predict long-term stability in patients enrolled in supportive periodontal therapy. J Clin Periodontol 2019;46:218-230.
[7] Petsos H, Arendt S, Eickholz P, Nickles K, Dannewitz B. Comparison of two different periodontal risk assessment methods with regard to their agreement: Periodontal risk assessment versus periodontal risk calculator. J Clin Periodontol 2020;47:921-932.