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Mit dem Stufenkonzept Behandlungsbedarf besser abschätzen

Prof. Dr. Moritz Kebschull (Universität Birmingham, England) war maßgeblich an der neuen Parodontitis-Klassifikation und an aktuellen Therapieleitlinien von DG Paro und EFP beteiligt. Im Interview mit Dr. Jan H. Koch erklärt er, wie sich die Dokumente für die tägliche Praxis nutzen lassen.

Prof. Dr. Moritz Kebschull (Universität Birmingham, England) war maßgeblich an der neuen Parodontitis-Klassifikation und an aktuellen Therapieleitlinien von DG Paro und EFP beteiligt.

Die neue Therapieleitlinie der EFP ist recht umfangreich. Warum sollten sich Kolleginnen und Kollegen trotzdem mit ihr beschäftigen?
Prof. Dr. Moritz Kebschull: Die Leitlinie ist ein in klar gegliederten Stufen aufgebauter Leitfaden mit konkreten Informationen, welche Methoden sich zu welchem Therapiezeitpunkt bewährt haben. So kann die Therapie strukturiert und auf Basis von aktuellster Wirksamkeitsbeurteilung aufgebaut werden. Ich denke, das macht das Leben der Kolleginnen und Kollegen einfacher – und verbessert hoffentlich auch die Therapie.
Wichtig ist, dass die Behandlungsempfehlungen nicht nur stumpf „harten“ Daten aus klinischen Studien folgen, zum Beispiel, wie Laser als Zusatz zur Instrumentierung auf die Reduktion der Taschensondierungstiefe nach sechs Monaten wirkt. Vielmehr haben wir in der großen und für den Anwenderkreis repräsentativen Leitliniengruppe für die Bewertung jeder Maßnahme weitere Faktoren hinzugezogen, darunter Patientenakzeptanz, Anwendbarkeit in der täglichen Praxis, das Verhältnis Aufwand/Wirkung sowie die Frage, ob der gezeigte Effekt überhaupt klinisch bedeutsam ist.
Unser Ausgangspunkt war zudem die Diagnose „Parodontitis“, wie in anderen medizinischen Disziplinen üblich, und nicht ein getrennt betrachteter Therapieschritt. Damit ist die Leitlinie deutlich weiter gefasst als viele, die bisher in der Zahnmedizin verfügbar sind.
Für die vorliegende Leitlinie haben wir uns zunächst auf die Parodontitisstufen I bis III der neuen Klassifikation beschränkt. Das sind rein parodontologische Probleme, die oft mit überschaubarem Aufwand und in vielen Fällen mit nichtchirurgischen Verfahren behandelt werden können. Komplexere Fälle der Stufe IV, die einen interdisziplinären restaurativen Ansatz erfordern, werden in einer weiteren Leitlinie abgehandelt. Diese ist bereits in Arbeit und soll bis Ende 2021 vorliegen. Die Erkrankung ist bei Stufe IV die gleiche, aber der zu erwartende therapeutische Aufwand viel größer.

Was ist in Bezug auf Behandlung und Patientenmanagement wichtig?
Kebschull: Ganz wesentlich ist die klare Abfolge der Behandlung nach dem Stufenkonzept. Erst wenn eine Stufe vollständig erklommen und ausgeschöpft ist, sollte die nächste Stufe angegangen werden. Hierzu ist es in der Regel notwendig, den Erfolg der vorangegangenen Therapie zu bewerten.
So sollen zum Beispiel aufwendige chirurgische Eingriffe der Stufe III erst dann erfolgen, wenn der Patient die Stufen I und II erfolgreich durchlaufen hat und eine adäquate Mitarbeit zeigt. Auch sollten Kollegen, die bei dem Patienten solche komplexe Maßnahmen durchführen wollen, ausreichend Erfahrung haben.
Sehr auffällig und für die Kolleginnen und Kollegen sicher interessant ist, wie kritisch die meisten adjuvanten Maßnahmen bei der Stufe-II-Therapie bewertet wurden. Für die meisten adjuvanten Maßnahmen konnte die Leitliniengruppe keine relevante Wirksamkeit nachweisen, so kam es zu negativen Empfehlungen bei Verfahren wie dem adjuvanten Lasereinsatz, der adjuvanten photodynamischen Therapie oder den gerade viel diskutierten Probiotika. Einzig in den Bereich einer sogenannten offenen Empfehlung „kann erwogen werden“ schafften es Chlorhexidinpräparate – als Chip oder in Sonderfällen als Spülung – sowie lokale oder systemische Antibiotika. Bei den Antibiotika ist aber sehr wichtig zu erkennen, dass hier starke Zurückhaltung gefordert wurde – denn das Problem der Resistenzbildungen ist gravierend!

Warum sind keine mikrobiologischen oder andere Tests enthalten?
Kebschull: Da es sich um eine therapeutische Leitlinie handelt, waren diagnostische Methoden kein Thema. Wegen bislang nicht ausreichender Aussagekraft hatten wir damals mikro- und molekularbiologische Testergebnisse auch nicht in die pro­gnostische Einteilung (Grading) der neuen Klassifikation aufgenommen. Diese lässt aber Raum für die Integration von neuen Tests, sobald zum Beispiel neue Erkenntnisse zu dysbiotischen Veränderungen vorliegen – in der Tat werden solche neuen Tests sogar in den Veröffentlichungen gefordert.

Und wie sieht es mit den angekündigten Apps aus, um Befunde der Klassifikation und den zugehörigen Therapieschritten richtig zuordnen zu können?
Kebschull
: Mit ein bisschen Übung ist die Zuordnung nach meiner Erfahrung in wenigen Minuten zu erledigen. Eine App ist deshalb nicht unbedingt notwendig. Die App kann auch nicht den notwendigen „klinischen gesunden Menschenverstand“ ersetzen. Es gibt aber erste Angebote im Netz, die zum Beispiel unter den Schlagworten „Parodontologie Club“ zu finden sind. Ich kann nur empfehlen, die neue Klassifikation einmal zu testen. Sie erlaubt zusammen mit der Therapieleitlinie, den voraussichtlichen Behandlungsbedarf sehr elegant einzuschätzen.