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Keine Allergietests bei Unverträglichkeit auf Titan

Wie können Behandler mit Patienten umgehen, die dentale Implantate wünschen, allerdings angeben, Titan nicht vertragen zu können? Oder was tun, wenn ein Patient mit Perimukositis oder Periimplantitis darüber klagt, die Symptome rührten von einer Titan-Allergie her? Diesem schwierigen und weiten Feld widmet sich eine neue S3-Leitlinie „Materialunverträglichkeiten bei dentalen, enossalen Implantaten“ unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Implantologie (DGI) und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) [1]. Im Folgenden werden wesentliche Sachverhalte dazu erläutert. 

Für schnelle Leser
  • Dentale Implantate aus Titan können nicht zur Entwicklung einer Typ-IV Sensibilisierung (“echte Allergie”) führen.
  • Allergietests auf Titan sollen nicht durchgeführt werden, weder prädiktiv, noch bei anamnestisch relevanten Vorerkrankungen (Empfehlung auf Basis insgesamt geringer bis moderater Evidenz).
  • Titanoxidpartikel im periimplantären Gewebe können zu lokalen Unverträglichkeitsreaktion über die Aktivierung von Makrophagen und deren proinflammatorischer Zytokinfreisetzung führen.  
  • Mittels Makrophagenstimulationstests kann versucht werden, die individuelle Immunreaktionen in vitro nachzuweisen; genetische Tests können eine genetische Prädisposition zu individuellen Entzündungsreaktion aufzeigen. Eine immunologische Inflammation aufgrund von Titanpartikeln ist damit allerdings nicht von einer triggernden bakteriellen Entzündung abzugrenzen.

Wenige Belege für Titanunverträglichkeitsreaktionen in der Literatur

Das Thema Titanunverträglichkeit bei oralen Implantaten sei ein „sehr emotionales“ sagten Dr. Dr. Anette Strunz, Berlin, Pressesprecherin der DGI, und Dr. Lena Katharina Müller-Heupt, Mainz, Hauptautorin der Leitlinie, auf einer Pressekonferenz übereinstimmend [2]. Die Verfasser der Leitlinie konstatierten grundsätzlich, “dass die Titanunverträglichkeitsreaktion in der Literatur nicht ausreichend belegt ist” [3]. Einzelne Fallberichte flössen nicht in die systematische Studiensuche bei einem S3-Leitlinienprozess ein, erläuterte Müller-Heupt. Weitere Evidenz bezüglich der Unverträglichkeitsreaktion auf Titan und ihrer Diagnostik werde benötigt.

Echte Metallallergien sind ­Kontaktallergien

Metallallergien, wie sie beispielsweise bei Hautreaktionen auf Nickel vorkommen, sind allergische Kontaktekzeme (Typ-IV-Reaktion). Coombs und Gell haben 1968 allergische Hypersensitivitätsreaktionen in vier verschiedene Typen eingeteilt [4]. Die Typen I–III vermitteln Antikörper, der Typ IV wird dagegen durch T-Zellen vermittelt. Heute ist bekannt, dass sich die einzelnen Typen überschneiden können.  

Mechanismus der Typ-IV-Überempfindlichkeitsreaktion vom ­verzögerten Typ

Bei der T-Zell-vermittelten Typ-IV-Reaktion wirken Metallionen, die in Haut oder Schleimhaut eindringen, als Haptene. Sie binden an körpereigene Proteine (Carrier-Proteine) und bilden einen Hapten-Protein-Komplex, der als Antigen wirkt. Langerhans-Zellen der Haut erkennen diese Komplexe und nehmen sie auf, um sie in regionalen Lymphknoten den T-Zellen zu präsentieren. Nach einer Sensibilisierungsphase von ca. 10 bis 14 Tagen kommt es bei erneuter Exposition mit dem Hapten an der Hautoberfläche zur antigen-spezifischen T-Zell-Antwort. Die T-Zellen wandern an die betroffene Stelle, vermehren sich und lösen über die Freisetzung von Zytokinen eine lokale Entzündung aus.

Kontaktallergien auf der Mundschleimhaut sind selten

An der oralen Mukosa treten allergische Kontaktreaktionen generell selten auf. Dies wird zum einen auf die Rinse-off-Wirkung des Speichels zurückgeführt [1], zum anderen ist die Anzahl an antigen-präsentierenden Langerhans-Zellen in der Mukosa geringer als in der Dermis [5]. Das Auftreten von Entzündungsreaktionen wird an der oralen Mukosa nach 24 bis 72 Stunden nach Antigenkontakt beschrieben [6].

Titanunverträglichkeit ist keine Allergie im klassischen Sinne

Titanionen bilden aufgrund ihrer hohen Sauerstoffaffinität unverzüglich nach ihrer Freisetzung Oxide. Auf Titanimplantaten formt sich innerhalb von 30 Millisekunden ein passiver Film Titanoxid [7]. Oxide können keine Proteinbindung eingehen und können somit per definitionem nicht als Hapten fungieren [1]. Daher ist eine Titanimplantat-Unverträglichkeit pathophysiologisch keine Allergie im klassischen Sinne.
Nichtsdestotrotz können Unverträglichkeitsreaktionen auf Titan über eine überschießende entzündliche Reaktivität von Gewebemakrophagen ausgelöst werden, die in Kontakt mit Titanoxidpartikeln kommen, welche durch partikulären Abrieb in das periimplantäre Gewebe gelangt sind [1]. Makrophagen können kleine Titandioxidpartikel (<10 μm) phagozytieren, wodurch sie zur Produktion proinflammatorischer Zytokine angeregt werden [8]. Da Gewebemakrophagen ohne Beteiligung von spezifischen Lymphozyten Zytokine ausschütten, kann auch deshalb bei dieser Art von Unverträglichkeitsreaktion von keiner Allergie im klassischen Sinne gesprochen werden. Daneben kann auch der saure pH-Wert im Rahmen von Entzündungsreaktionen zu einer Biokorrosion an der Titanoberfläche führen. Es gibt Hinweise aus Studien, dass die entzündete Umgebung bei einer Periimplantitis oder Mukositis mit einer höheren periimplantären Belastung mit Titanpartikeln einhergeht [3].

Kontaktsensibilisierung durch ­Suprakonstruktionen

Möglicherweise führen auch Legierungen in der Suprakonstruktion zu Unverträglichkeitsreaktionen beziehungsweise Allergien. Auslöser dafür können andere Legierungsbestandteile als Titan, Verunreinigungen sowie Klebstoffe sein. Besteht der Verdacht auf ein allergisches Kontaktekzem der Mundschleimhaut, das von anderen zahnprothetischen Materialien verursacht wurde, kann ein Epikutantest differentialdiagnostisch zielführend sein. Dieser ist für den Nachweis einer Sensibilisierung auf Nickel, Kobalt, Chromat und (Meth-)Acrylaten etabliert. Für die meisten anderen Metalle sind Spezifität und Sensitivität dieses Tests unbekannt. Der sogenannte Lymphozytentransformationstest (LTT) kann im Einzelfall als Ergänzung in einem mehrstufigen diagnostischen Ansatz integriert werden. Ein Auslassversuch, also ein Herausnehmen der Suprakonstruktion für einige Zeit, kann bezüglich Unverträglichkeiten oder Allergien auf Materialien in der Suprakonstruktion wegweisend sein.  

Allergietests auf Titan führen nicht zum Ziel

Die Leitlinie rät von Allergietests auf Titan klar ab (“Eine Testung soll nicht durchgeführt werden.”) [1]. Dies gilt sowohl für den Epikutantest als auch für den LTT, denn titan-spezifische Lymphozyten spielen bei Titanunverträglichkeitsreaktionen keine Rolle. Der LTT gibt Hinweise auf allergenspezifische Gedächtniszellen im Blut, die jedoch nicht unbedingt mit einer klinisch lokalen Reaktion in Beziehung stehen müssen. Beide Tests sollen nicht zur Abklärung einer potenziell bestehenden Sensibilisierung auf Titan eingesetzt werden, auch nicht bei Patienten mit relevanten Vorerkrankungen in der Anamnese oder bei Patienten, bei denen der Verdacht auf eine klinische Unverträglichkeitsreaktion besteht. Denn Untersuchungen zeigen, dass selbst in Fällen, in denen ein Verdacht auf eine Titanunverträglichkeit besteht, der Test nicht positiv anschlägt.  

Bakterien oder Titanpartikel – ­Abgrenzung nicht möglich

Eine genetische Prädisposition für individuelle Entzündungsreaktionen ist mit Tests nachweisbar. Allerdings steigt auch mit steigendem Lebensalter eher die Bereitschaft zu entzündlichen Reaktionen. Daher seien, so die Experten, die aktuell verfügbaren Tests als hinweisende Diagnostik zu betrachten, die keine kausale Antwort geben könnten [3]. Die Abgrenzung zwischen einer triggernden bakteriellen Entzündung und einer möglichen immunologischen Inflammation aufgrund von Titanpartikeln ist bislang ebenfalls nicht gesichert möglich.

Was bleibt bei Periimplantitis mit Verdacht einer ­Titanunverträglichkeit zu tun?

Um eine therapeutische Entscheidung zu treffen, ist die klinische Symptomatik der lokalen, immunologisch bedingten Entzündungsreaktion und die folgende gestörte ossäre Integration des Implantats ausschlaggebend. Die Therapie der periimplantären, Biofilmassoziierten Infektion soll zunächst leitlinienkonform erfolgen, führte Müller-Heupt bei der Pressekonferenz zur S3-Leitlinie aus. Helfe das nicht weiter, solle ein Auslassversuch der Suprakonstruktion unternommen werden. Die Explantation des betroffenen Implantats sollte die Ultima Ratio sein. “Für Patienten mit vermuteter Titanunverträglichkeit können auch dentale Keramikimplantate als Therapieoption in Betracht gezogen werden”, formulierten es die Fachleute [3].  

Dr. Kerstin Albrecht, Düsseldorf

Hinweis: Beiträge in der Rubrik Oralmedizin kompakt können nicht die klinische Einschätzung des Lesers ersetzen. Sie sollen lediglich – auf der Basis aktueller Literatur und/oder von Expertenempfehlungen – die eigenverantwortliche Entscheidungsfindung unterstützen.

Quellen

[1] DGI, DGZMK: „Materialunverträglichkeiten bei dentalen, enossalen Implantaten“, Langfassung, Version 1.0, 2022, AWMF-Registriernummer: 083-041, www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/083-041.html, (Zugriff am: 07.06.2023)
[2] Online-Pressegespräch: Neue Leitlinie „Materialunverträglichkeiten bei dentalen, enossalen Implantaten“, 1.6.2023
[3] Presse-Information der DGI vom 01. Juni 2023, „S3-Leitlinie zum Thema Materialunverträglichkeiten bei dentalen Implantaten, DGI legt die international erste Leitlinie zu diesem Thema vor“
[4] Coombs, P.R.G., P.G. . Classification of allergic reactions responsible for clinical hypersensitivity and disease. . Gell, R.R., Ed., Clinical Aspects of Immunology, Oxford University Press, Oxford, 575-596. 1968.
[5] Bass, J.K.; Fine, H.; Cisneros, G.J. Nickel hypersensitivity in the orthodontic patient. Am J Orthod Dentofacial Orthop 1993, 103, 280-285, doi:10.1016/0889-5406(93)70009-d.
[6] Bakula, A.; Lugović-Mihić, L.; Situm, M.; Turcin, J.; Sinković, A. Contact allergy in the mouth: diversity of clinical presentations and diagnosis of common allergens relevant to dental practice. Acta Clin Croat 2011, 50, 553-561.
[7] Hanawa T. A comprehensive review of techniques for biofunctionalization of titanium. J Periodontal Implant Sci. 2011 Dec;41(6):263-72. doi: 10.5051/jpis.2011.41.6.263.
[8] Bi, Y.; Van De Motter, R.R.; Ragab, A.A.; Goldberg, V.M.; Anderson, J.M.; Greenfield, E.M. Titanium particles stimulate bone resorption by inducing differentiation of murine osteoclasts. J Bone Joint Surg Am 2001, 83, 501-508, doi:10.2106/00004623-200104000-00004.

Dr. Müller-Heupt vor Chatboard gestikulierend

Die federführende Autorin der Leitlinie Dr. Lena Katharina Müller-Heupt von der Universitätsmedizin Mainz auf der Konsensus-Konferenz in Sinzig 2021