Anzeige

Premium Article

Premium Article
0

Advertorial

Advertorial
0

Oralmedizin: Großer kleiner Unterschied

Großer kleiner Unterschied

Oralmedizin kompakt – Update: Biologisches (Sex) und soziokulturelles Geschlecht (Gender) sollten bei oralen Erkrankungen stärker berücksichtigt werden. Wichtige Unterschiede gibt es zum Beispiel bei Prävalenzen und Schmerzwahrnehmung.

Für schnelle Leser

• Die unterschiedliche genetische Ausstattung von Frauen und Männern beeinflusst Entstehung, Prävalenz und Symptomatik von Erkrankungen.
• Auf Art (zum Beispiel Medikation) und Erfolg einer Therapie wirken sich auch das geschlechtsbezogene Rollenverhalten von Patienten (Gender) und das Geschlecht der behandelnden Person aus.
• Spezifische Risiken zum Beispiel für parodontale, endodontische und onkologische Erkrankungen erfordern angepasste Behandlungskonzepte.
• Binär männliche oder weibliche und ebenso Patienten mit anderen (non-binären) Genderidentitäten wünschen sich von medizinischen Fachkräften eine angemessene Kommunikation.
• Geeignete geschlechts- und genderspezifische Forschung und Ausbildung könnten die medizinische Versorgung signifikant verbessern.

Der Unterschied ist mehr als klein

Dass geschlechtsspezifische Unterschiede medizinisch relevant und kein „Gedöns“ (Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder) sind, hat sich herumgesprochen. Geschlecht ist primär biologisch festgelegt, hat auch wichtige soziale und kulturelle Aspekte (Gender). So sterben laut einer im Vorfeld des Bayerischen Zahnärztetags publizierten Übersicht mehr Frauen als Männer an Herzinfarkten, wenn sie von männlichen Ärzten behandelt werden [1, 2]. Weiterhin haben Männer mit hohem maskulinem „Gender-Score“ nach Herzinfarkten bessere Überlebenschancen als solche mit niedrigem [3].

Falsche Medikation, mehr ­Nebenwirkungen

Ein weiterer Grund für das erhöhte Sterberisiko von Frauen ist, dass sie trotz ähnlicher Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu selten präventiv wirkende Medikamente erhalten [4]. Auch bei zahlreichen weiteren Erkrankungen werden schon Ätiologie, Häufigkeit und klinische Symptomatik durch geschlechts- und genderspezifische Unterschiede wesentlich beeinflusst. Dazu zählen zum Beispiel Schilddrüsenerkrankungen, Depressionen und Essstörungen.

Begriffsbestimmungen

Das biologische Geschlecht (englisch: sex) bezieht sich auf die biologischen Merkmale, die Männer und Frauen voneinander unterscheiden, einschließlich Anatomie, Chromosomen und Hormone. Gender ist dagegen ein komplexes Zusammenspiel sozialer, kultureller und individueller Faktoren, die beeinflussen, wie sich eine Person identifiziert und ausdrückt [1, 5].

Eine wesentliche Rolle bei den genannten Unterschieden spielen die Geschlechtschromosomen. Diese steuern über Hormone zum Beispiel die immunologische Kompetenz, die bei Frauen stärker ausgeprägt ist. Der Befund könnte die verbesserten Erfolgsraten von Krebstherapien erklären [6]. Weiterhin scheint er stärkere Nebenwirkungen von Medikamenten, aber auch von Sars-CoV-2-Impfungen [7], und eine höhere Prävalenz von Autoimmunerkrankungen zu bewirken [1]. Bedingt durch Unterschiede bei Resorption, Stoffwechsel und immunologischen Besonderheiten wirken viele Medikamente bei Frauen und Männern nicht in gleicher Weise. Eine nicht angepasste Diagnostik, Rezeptierung oder Dosierung können daher den therapeutischen Erfolg gefährden [1].

KfO, Karies und Pulpitis

Auch im oralen Bereich gibt es zahlreiche Differenzen, mit zum Teil gravierenden therapeutischen Konsequenzen. Auf dem Bayerischen Zahnärztetag und der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde in Berlin nannte Prof. Dr. Margrit-Ann Geibel (Universität Ulm) zunächst die geschlechtsbedingten Unterschiede in der Gebissentwicklung, mit entsprechender Relevanz für die kieferorthopädische Behandlung. Wurzelkaries hat bei älteren Männern (65 bis 74 Jahre) im Vergleich zu älteren Frauen eine höhere Prävalenz [8], dagegen sind bei Frauen häufiger Wurzelkanalbehandlungen notwendig [9]. Bei Frauen treten zudem mehr CMD-Erkrankungen auf, und sie leiden häufiger unter Schmerzen nach chirurgischen Eingriffen (Vortrag Geibel).

Auch Männer haben Hormone

Männer haben dagegen häufiger Mundkrebs, was neben dem stärker ausgeprägten Alkohol- und Nikotinabusus auch mit der oben erwähnten schlechteren Immunkompetenz zusammenhängen könnte. Von Parodontitis sind ebenfalls Männer häufiger betroffen [8]. Dies ist möglicherweise nicht nur durch die schlechtere Mundhygiene und Wahrnehmung von Kontrollterminen [10], sondern auch durch den höheren Testosteronspiegel bedingt [11]. Alle geschlechtsspezifischen Besonderheiten sollten bereits bei Anamnese, Diagnostik und vor allem in der Prävention (Recall-Termine) berücksichtigt werden.

Ärztin zeigt ihrer Patientin ein Testergebnis

Besondere Patientengruppen benötigen besondere Beratung. Auch eine interdisziplinäre zusammenarbeit kann notwendig sein, zum Beispiel bei Diabetes und Schwangerschaft.

Schwangerschaft und Menopause

Zahlreiche Besonderheiten sind bei Frauen infolge hormoneller Effekte und bei Schwangerschaft zu beachten. So steigt bei Schwangeren das Kariesrisiko durch geringere Puffer- und Remineralisationskapazität des Speichels. Wegen des hormonell reduzierten Immunsystems (Schutz vor Abstoßung des Embryos) ist zudem das Gingivitisrisiko erhöht, und eine bestehende Parodontitis kann verstärkt werden. Dass das Risiko für Frühgeburten oder geringeres Geburtsgewicht des Kindes durch Parodontitistherapie reduziert ist, konnte bisher nicht eindeutig gezeigt werden [12].

Obwohl eine effektive Vorbeugung vorzuziehen ist, kann im dritten Trimenon bei Bedarf eine nicht-chirurgische Behandlung erfolgen [13]. Zu beachten sind auch angepasste pharmakologische Dosierungen, zum Beispiel bei Lokalanästhesien. Details und Literaturangaben enthält ein Übersichtsartikel [14].

Auch in der Menopause spielen Hormone eine wichtige Rolle [15]. So kann der verminderte Östrogenspiegel zu reduziertem Speichelfluss und Xerostomie führen. Diese kann auch durch Medikamentennebenwirkungen auftreten. Xerostomie verändert das mikrobielle Gleichgewicht und erhöht das Kariesrisiko. Dies wird dadurch verschärft, dass die Geschmackswahrnehmung im Alter beeinträchtigt und der Zuckerkonsum entsprechend erhöht sein kann [15]. Das oralmedizinische Team sollte über den Themenkomplex aufklären und ihn in präventiven Konzepten berücksichtigen.

Weitere Erkrankungen, die während oder nach der Menopause vermehrt auftreten können, sind das Burning-Mouth-Syndrom und der orale Lichen planus. Zum männlichen Pendant Andropause, die durch Testosteron-Mangel gekennzeichnet ist, gab es zum Recherchezeitpunkt auf Pubmed keine Ergebnisse für die zusätzlichen Suchbegriffe „dental“, „oral“, „caries“ oder „periodontitis“.

Lesen Sie auch den dzw-Artikel: "Wechseljahre im Mund"

Gender, Diversität, Kommunikation

Für eine gute medizinische Versorgung ist es notwendig, abgestimmt auf die Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten zu kommunizieren. Dies spielt bei der geschlechtsspezifischen Ansprache im „binären“ Regelfall eine wichtige Rolle, aber ebenso bei nicht-binären Menschen. Dazu gehören auch solche, die sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren („trans“). Nicht-binäre Menschen begeben sich, zum Beispiel wegen psychologischer Probleme, befürchteter oder realer Diskriminierung oder nicht angemessener Ansprache (Namen) seltener in medizinische Behandlung, mit negativen Auswirkungen auch auf die Mundgesundheit [1, 16]. Das gilt in ähnlicher Weise für andere Minoritäten, zum Beispiel ethnische und religiöse, für Migrantinnen und Migranten und traumatisierte Menschen. Entsprechende Sensibilität und Informiertheit des medizinischen Teams ist aus medizinisch-ethischen Gründen erforderlich.

Fazit: Im Bereich geschlechts- und genderspezifischer Medizin gibt es großen Nachholbedarf. Neben der Forschung ist für besser abgestimmte – und damit potenziell erfolgreichere – Prävention, Diagnostik und Therapie auch die Ausbildung gefragt (dzw 43/2023, Seite 8). Mit der Aufnahme in medizinische Curricula sind zum Beispiel Schweden, Kanada und die USA schon weiter als Deutschland (dzw 35/2021, Seite 2). Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Dr. med. dent. Jan H. Koch, Freising

(wird fortgesetzt)

Hinweis: Beiträge in der Rubrik „Oralmedizin kompakt“ können nicht die klinische Einschätzung der Leser ersetzen. Sie sollen lediglich – auf der Basis aktueller Literatur und/oder von Experten-Empfehlungen – die eigenverantwortliche Entscheidungsfindung unterstützen.

Der Autor erklärt, dass er keinen Interessenkonflikt hat. Für den Aspekt gender-spezifische Kommunikation nutzte der Autor unter anderem eine ChatGPT-Anfrage (siehe Literaturliste).

Dr. Jan H. Koch

Dr. med. dent. Jan H. Koch ist approbierter Zahnarzt mit mehreren Jahren Berufserfahrung in Praxis und Hochschule. Seit dem Jahr 2000 ist er als freier Fachjournalist und Berater tätig. Arbeitsschwerpunkte sind Falldarstellungen, Veranstaltungsberichte und Pressetexte, für Dentalindustrie, Medien und Verbände. Seit 2013 schreibt Dr. Koch als fester freier Mitarbeiter für die dzw und ihre Fachmagazine, unter anderem die Kolumne Oralmedizin kompakt.

Mitglied seit

7 Jahre 2 Monate