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Bürgerversicherung vom Tisch?
Derzeit sind noch 8,73 Millionen Menschen privat vollversichert.

Zwei-Klassen-Medizin oder Fortschrittsgarant? Die politischen Lager streiten um die Zukunft der PKV. Derzeit sind noch 8,73 Millionen Menschen privat vollversichert.

„Jung, dynamisch, wir verstehen uns, wir werden etwas verändern“ – das Selfie von Volker Wissing (FDP), Annalena Baerbock (Grüne), Christian Lindner (FDP) und Robert Habeck (Grüne) blinkte einem in der vergangenen Woche aus allen Medien entgegen. „We are family“ singen die vier bereits in den sozialen Medien – vorerst noch als Deepfake. Bei so viel zur Schau getragenen Harmonie bleibt es spannend, wie die Sondierungsgespräche ausgehen werden. Im aktuellen „DeutschlandTrend im ARD-Morgenmagazin“ trauen 51 Prozent der Bürgerinnen und Bürger einer Koalition aus SPD, Grünen und FDP am ehesten einen politischen Neuanfang zu. Für Jamaika sprechen sich nur 18 Prozent aus.

Kommt die Ampel und wohin wird sie gehen?

So oder so werden vor allem erst einmal Grüne und FDP zu einander finden müssen, sitzen sie doch jenseits einer Minderheitenregierung und einer großen Koalition in jedem Fall zusammen in einem Regierungsboot. Bei der konkreten politischen Ausgestaltung rund um die Themen Klimaschutz, Steuern und Gesundheit dürfte die Selfie-Harmonie schnell auf die Probe gestellt werden. Das Thema Bürgerversicherung kann ein Knackpunkt im Bereich der Gesundheitspolitik werden. Hier liegen zwar SPD und die Grünen nahe beieinander, aber eben konträr zur Position der FDP.

Nach einer repräsentativen Umfrage von Infratest dimap für das ARD-Magazin „Monitor“ befürworten 69 Prozent der Wahlberechtigten die Einführung einer Bürgerversicherung. Das sieht bei den Anhängern von Union mit 68 Prozent und FDP mit 62 Prozent ziemlich ähnlich aus. Derzeit ist Deutschland das einzige EU-Land, das noch ein duales System aus privater Vollkrankenversicherung und GKV hat. Hierzulande sind rund 10 Prozent privat vollversichert – Beamte, Selbständige, vielverdienende Angestellte, Unternehmer.

Eine Studie des Berliner IGES Instituts im Auftrag der Bertelsmann Stiftung hat errechnet, dass wenn alle Bundesbürger in die gesetzliche Krankenkasse einzahlten, ein jährliches finanzielles Plus von rund 9 Milliarden Euro erzielt werden würde. Der Beitragssatz könnte so laut Studie um 0,2 bis 0,6 sinken, je nach dem ob die Honorarverluste der Ärzte ausgeglichen würde. Der PKV-nahe PVS-Verband hat die möglichen Honorareinbuße pro Arztpraxis mit durchschnittlich 55.000 Euro beziffert. Gewohnt schrill tönt so auch der Vorstandsvorsitzende der KBV, Dr. Andreas Gassen: „Eine starre Einheitsversicherung für alle und jeden ist eine Idee aus der sozialistischen Mottenkiste.“ Jenseits von ideologischem Krakeel und lobbyöser Rhetorik ist die Frage nach der Langfristigkeit der positiven finanziellen Effekte auf die Gesundheits- und Sozialsysteme erlaubt, wenn alle in eine Bürgerversicherung einzahlten.

Erst einmal würde deutlich mehr Geld in die GKV fließen. Die Mehreinnahmen lägen über den Mehrausgaben. Noch. Denn noch arbeiten die Babyboomer und zahlen ein. Das sieht bereits 2030 ganz anders aus. Da werden die geburtenstarken Jahrgänge Rentner und Pensionäre sein. Mit zunehmenden Alter steigen in der Regel auch die Gesundheitskosten für die Krankenversicherungen – egal ob privat oder gesetzlich.

Die Bürgerversicherung ist also ein Scheinriese. Das wissen auch die Grünen, FDP und die SPD. Daran werden Koalitionsgespräche jedenfalls nicht scheitern. „Unverhandelbar ist gar nichts“, sagte auch der künftige SPD-Gesundheitsministerkandidat Karl Lauterbach in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“.

Eines wird den künftigen Koalitionären bewusst sein, neben den übergroßen Herausforderungen, die der Klimawandel mit sich bringt, ist auch das komplette Gesundheitssystem schwer reformbedürftig. Statt Spahn‘scher Aktivismus ist gemeinsame Anstrengung gefragt. „We are family“ – halt in echt.