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Kritik braucht einen gut vorbereiteten Boden

Anna holt alle Zettel aus ihrem Kästchen. Zwölf kurze Nachrichten. So viele Nachrichten hatte sie schon lange Zeit nicht mehr. Sie freut sich und verstaut die Zettel behutsam in ihrer Handtasche. Die liest sie sich zu Hause in Ruhe mit einer Tasse Tee durch. Es wäre zu schade, sie nur kurz zwischendurch anzuschauen. Der Weg nach Hause kommt ihr heute länger vor als sonst. Endlich steckt sie den Schlüssel ins Schloss, öffnet die Tür und legt ab.

Jetzt macht es sich Anna so richtig gemütlich. Erst, wenn alles stimmt: Tee, Kerze, Kissen, Decke, Socken, holt sie ihre Zettel aus der Handtasche. Und beim Lesen lächelt sie und erinnert sich an manche Situationen oder freut sich einfach über die lieben Worte. Sie liest die Zettel nochmals und nochmals. Schließlich legt sie alle Zettel zu den anderen, die sie vor zwei Monaten erhalten hat. Es tut einfach so gut, wenn man so viele lieben Nachrichten erhält.

Es hat sich wirklich gelohnt, die Praxis zu wechseln. Die Stimmung im neuen Team ist eine ganz andere, die Kolleginnen gehen viel wohlwollender miteinander um. Alleine regelmäßig in seine Box schauen zu dürfen und so viele lieben Nachrichten vorzufinden, stärkt das Miteinander und den Zusammenhalt. Da freut sie sich gleich morgen auf ihren neuen Tag in der Praxis.

Bewertungen gehören zum Alltag

Überall wird bewertet. Bei jedem Kauf wünschen der Verkäufer oder der Hersteller eine Bewertung. Bei Reisen der Reiseveranstalter. Bei Ärzten Bewertungsportale. Wir sind es gewohnt, unsere Meinung zu Produkten und Dienstleistungen abzugeben, und wenn wir uns im öffentlichen Raum bewegen, sind wir es auch gewohnt, Bewertungen zu akzeptieren. Manchmal ist das erfreulich, manchmal hart, manchmal ungerechtfertigt. Wir leben in dieser Kultur des „Die-Meinung-Sagens“. Was manche Menschen schon nervt, wird immer mehr zu einer kulturellen Gewohnheit. Und damit die eher harte, weil anonyme Kritik nicht überhandnimmt, ist es so wichtig, in Teams, die täglich gut zusammenarbeiten, einen Kontrapunkt zu setzen.

Das war nicht immer so. Noch vor einiger Zeit, wurde nicht so öffentlich bewertet. Man trug eine Meinung in sich, aber war es nicht gewöhnt, sie öffentlich einfach zu posten. Wir konnten in den Reaktionen lesen und wussten auch ohne, dass es jemand explizit ausdrückte, wo wir stehen. Wir haben durch Nicht-formulieren auch den anderen geschützt. Und es gab kaum Raum für Frust aus anderen Kontexten.

Die 5:1-Regel

Da mit Bewertungen nun neu umgegangen wird und Mitarbeitende immer stärker Feedback einfordern, weil sie in dieser Kultur groß geworden sind und explizit Bewertungen wünschen, ist ein Praxisinhaber besonders gefragt. Und gleichzeitig ist es schwierig, dieses Bedürfnis im Alltagsgeschehen zu füllen. Denn das Bedürfnis ist inzwischen so ausgeprägt, dass eine einzelne Führungsperson es kaum erfüllen kann. Dabei gilt die Regel 5:1. Eine Person ist erst dann bereit, einen kritischen Aspekt zu akzeptieren, wenn sie davon überzeugt ist, dass wir es grundsätzlich gut mit ihr meinen. Erst dann, wenn sie überzeugt ist, dass sie unsere Kritik voranbringen wird, hört sie tatsächlich hin und nimmt sich die Worte zu Herzen. Das bedeutet konkret in der Zusammenarbeit, dass eine Person etwa fünf Mal ein positives Feedback erhalten möchte, um ein kritisches Feedback tatsächlich anzuhören, zu akzeptieren und umzusetzen.
Was bei Bewertungsportalen fehlt, ist im zwischenmenschlichen, direkten Kontakt wichtig und notwendig. Eine kritische Bewertung braucht einen gut vorbereiteten Boden. Sonst geschieht, was im Netz auch geschieht: Wir werten den Kritiker ab: „Der hat doch keine Ahnung“. Also brauchen wir sehr viele Anlässe und müssen immer wieder daran denken, kurz zu lächeln, etwas Wohlwollendes zu sagen oder einfach nur mit dem Daumen nach oben zu zeigen und uns sehr zufrieden zu zeigen. Eine echte Herausforderung, wenn man mehr als drei oder vier Mitarbeiter im Team hat. Und allen gerne gerecht werden möchte.

Deswegen ist es der eine Weg, selbst darauf zu achten, mehr positive Rückmeldungen zu geben und zwar immer dann, wenn es möglich ist. Und tatsächlich jede mögliche Situation dafür zu nutzen. Zum anderen kann man aber auch das Team untereinander zu mehr positivem Feedback motivieren. Denn im Alltag – auch wenn es uns wichtig ist und wir gerne anerkennen – geht das manchmal unter. Und dafür sind die persönlichen Kästchen mit den eingangs beschriebenen Zetteln sehr hilfreich.

Feedback in a box

Jeder Mitarbeiter bekommt ein Kästchen, in das die Kolleginnen einen oder mehrere kleine Zettel mit einer netten Bemerkung, einem Dankschön oder mit einem guten Wunsch, einwerfen können. Die Zettel liegen gleich neben den Kästchen und auch bunte Stifte liegen dabei. Jeder der möchte kann dann zu jedem Zeitpunkt eine nette Nachricht an eine Kollegin richten und einwerfen. Vielleicht sagt sie es ihr auch persönlich. Aber in schriftlicher Form, hat die Kollegin auch später daran noch ein Freude.

Die meisten Mitarbeiter nehmen das, genau wie Anne, wie einen Schatz wahr und sind schon sehr gespannt, die kurzen Notizen zu lesen, die ihnen die Kollegen zugespielt haben. Um die Spannung zu erhöhen, sollten die Kästchen nur einmal im Monat oder alle zwei Monate geöffnet werden. Würden wir diese Methode täglich nutzen, würde sie sich sehr schnell abschleifen. Und es muss klar sein, wie die Briefchen auszusehen haben, die man einwerfen kann: Datum, Absender und eine kurze Beschreibung dessen, über was man sich gefreut hat. Zum Beispiel: „Danke, dass du mir heute geholfen hast“, 15.1.20, Anna.

Auch die Chefin und der Chef haben ein Kästchen, in das Zettel eingeworfen werden können. Denn auch sie sind Mitglied im Team. Und meist erhalten sie am wenigsten Feedback. Chefin und Chef selbst sollten großzügig Zettel schreiben und anerkennen. Wichtig ist aber vor allem auch das Team zu aktivieren. Denn die Anerkennung im Team ist für viele Menschen neben einem wohlmeinenden Praxisinhaber eines der wichtigsten Kriterien, um sich am Arbeitsplatz wohl zu fühlen.

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