Verzweifelte Eltern, abgewiesene und vertröstete Patienten, ratlose Zahnärzte und zu viele extrahierte Zähne, die bei einer rechtzeitigen Behandlung hätten erhalten werden können: Das sind längst keine bedauernswerten Einzelfälle mehr, sondern immer häufiger Realität bei sehr kleinen Kindern mit frühkindlicher Karies (ECC), Schulkindern mit schwer betroffenen Kreidezähnen und bei Menschen mit Beeinträchtigungen.
In Deutschland fallen sie aus der Norm der zahnärztlichen Versorgung, wenn sie für die Therapie ihrer Zähne einer Narkose bedürfen. Eine Indikation, die das Versorgungssystem zu sprengen scheint, denn in der Regel werden weder die niedergelassenen Anästhesisten dafür adäquat honoriert, noch können in Kliniken ausreichende OP-Kapazitäten zur Verfügung gestellt werden.
Eine Narkose erleichtert eine Zahnbehandlung. Als elektive Leistung wird sie nicht selten bei kieferchirurgischen Eingriffen gewählt. Es gibt aber auch Narkosen, die alternativlos sind und bei denen die Krankenkasse die Kosten übernimmt. Dazu gehören Kinder unter zwölf Jahren und Patienten mit geistiger Behinderung, schweren Bewegungsstörungen, die nicht mit dem Zahnarzt zusammenarbeiten können, und Patienten, die aufgrund einer organischen Erkrankung keine Lokalanästhesie erhalten dürfen.
Menschen, die besonders vulnerabel sind, soll so eigentlich die Behandlung beim Zahnarzt möglich und erleichtert werden. Eigentlich, denn in der Praxis werden viele dieser Fälle sehr lange aufgeschoben oder nur in großer Entfernung zum Wohnort durchgeführt. Es gibt inzwischen einfach zu wenige niedergelassene Anästhesisten für diese Art der Behandlung.
„Die Kürzung anästhesiologischer Leistungen seit 2022 hat schwerwiegende Folgen für die zahnärztliche Behandlung von Kindern mit Beeinträchtigung und sehr jungen Kindern, beispielsweise mit frühkindlicher Karies“, erklärt drs. Johanna Maria Kant, Vorsitzende des Bundesverbands der Kinderzahnärzt:innen (BuKiZ).
Anästhesisten erleiden massive Honorareinbußen
„In Niedersachsen erhalten Anästhesisten nach Beschluss zur Quotierung der Praxisbesonderheiten im Honorarverteilungsmaßstab bei Eingriffen in Kinderzahnarztpraxen derzeit nur noch etwa 45 Prozent des Narkosehonorars von der Kassenärztlichen Vereinigung.
Auch in anderen Bundesländern gibt es Probleme. Das nimmt den Anästhesisten jegliche Planungssicherheit und uns Zahnärzten die Möglichkeit, die vulnerabelsten Patienten angemessen zu versorgen“, schildert die Zahnärztin aus Oldenburg.
Aus und vorbei die Zeiten, in denen Anästhesisten, die häufig Narkosen in einer Praxis machen, diese als Praxisbesonderheit anmelden und mit den Kostenträgern adäquat abrechnen konnten. Auf diese Regelung hatte man sich 2009 geeinigt, als die Leistungskürzungen in der gesetzlichen Krankenversicherung erstmals zu einer Schlechterstellung anästhesiologischer Leistungen in der Kinderzahnmedizin führten.
Jetzt ist auch nach mehr als zwei Jahren noch immer keine Lösung des altbekannten Problems in Sicht – mit massiven Folgen für die Betroffenen. Denn immer häufiger kündigen Anästhesisten die Zusammenarbeit mit der Zahnarztpraxis auf. Den Anästhesisten kann es letztlich egal sein, für welche Behandlung der Patient schläft. „Wenn der Anästhesist beim HNO-Arzt 100 Prozent des Honorars bekommt, beim Kinderzahnarzt aber nur 45 Prozent, dann muss er aus wirtschaftlichen Gründen seinen Tätigkeitsschwerpunkt umstellen und er geht zum HNO-Arzt“, fasst Kant den Frust zusammen.
Ein Fünftel der Praxen stellt Behandlungen unter Narkose ein
Eine bundesweite Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnmedizin (DGKiZ) in Zusammenarbeit mit dem BuKiZ unter Kinderzahnärzten im Jahr 2022 hat ergeben, dass etwa 20 Prozent der spezialisierten Praxen in der Kinderzahnmedizin ihre Narkosebehandlung einstellen mussten.
Wie viele Narkosen dadurch entfallen, ist aber nur schwer zu beziffern. Weil die Patienten in verschiedenen Fachbereichen wie MKG, Oralchirurgie oder Kinderzahnmedizin aufschlagen, sei es schwierig, valide Zahlen zu bekommen. „Wenn ein Bäcker im Supermarkt für seine Arbeit mehr Geld bekommt als in einer Bäckerei, kann man ja auch schwerlich sagen, wie viele Brötchen dadurch im Fachbetrieb nicht gebacken werden. So ist es auch mit den Narkosen. Ich registriere allerdings immer häufiger Patienten in meiner Praxis, die nirgendwo anders angenommen wurden, und auch vermehrt Anrufe von Kollegen, die sagen: ‚Mein Anästhesist ist abgesprungen, was mache ich denn jetzt?‘“
Für spezialisierte Kinderzahnarztpraxen, die ihren Anästhesisten verlieren, bedeutet dies nicht zwingend einen Honorarverlust, wenngleich sie in die Ausbildung ihres Tätigkeitsschwerpunktes viel Arbeit investiert haben, sowohl durch Fortbildungen als auch durch die apparative Aufrüstung und notwendige Umbaumaßnahmen für zum Beispiel einen Aufwachraum in der Praxis.
Aufruf
Auf Wunsch von Dr. Reinhard Schilke und drs. Johanna Maria Kant bitten wir Zahnärzte sowie Patienten und Angehörige, ihre Erfahrungen bei der Suche nach ambulanten oder stationären Zahnsanierungen unter Narkose zu schildern. Gerne leiten wir Ihre Einsendungen weiter und publizieren unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte in Rücksprache weiter zum Thema. Schreiben Sie uns dazu an redaktion.dzw@mgo-fachverlage.de
Angepasste Praxiskonzepte
Viele stellten sich als Konsequenz anders auf und würden verstärkt andere Behandlungsschwerpunkte anbieten. Sicherlich auf der Strecke bleiben allerdings die Kinder mit großem Behandlungsbedarf und Menschen mit Beeinträchtigungen, bei denen eine zahnärztliche Behandlung unter üblichen Bedingungen nicht möglich ist. Denn bis zu einer Therapieaufnahme haben viele bereits eine Odyssee hinter sich und müssen lange Anfahrtswege in Kauf nehmen, manchmal durch das ganze Bundesland oder auch darüber hinaus.
Verantwortungsvolle Narkose-Entscheidung
Natürlich brauche nicht jedes Kind, das eine Kinderzahnarztpraxis aufsucht, eine Behandlung in Narkose. Johanna Kant plädiert für den verantwortungsvollen und indikationsgerechten Umgang mit der Narkose-Entscheidung. Es gebe viele andere Methoden, die Anwendung finden könnten. Wenn ein Kind allerdings ein akutes Problem mit Schmerzen und Entzündung hat, welches nicht unter Lokalanästhesie behandelt werden kann, wird es schwierig.
„Dies betrifft vor allem Kinder, die zu klein oder beeinträchtigt sind und zugleich einen massiven Befund haben, wenn also zum Beispiel von 20 Milchzähnen einige einer Behandlung mit Zahnnervbehandlung beziehungsweise einer Zahnentfernung bedürfen. Auch Kreidezähne können die Lebensqualität durch chronische Schmerzen stark beeinträchtigen. Diese Kinder können zum Teil unter Lachgas behandelt werden. Bei anderen ist die Behandlung nur unter Narkose möglich. Dafür braucht es einen erfahrenen und auf Kinder spezialisierten Anästhesisten, der die erforderlichen Standards einhält“, erklärt Kant.
Unterversorgung trotz Paragraf 87b
Die Unterfinanzierung der Anästhesisten gefährdet auch diejenigen Patienten, die nach dem Gesetz ausdrücklich geschützt sein sollen: Laut Paragraf 87b Abs. 2 Satz 5 SGB V dürfen anästhesiologische Leistungen für Patienten mit geistiger Behinderung oder schwerer Dyskinesie nicht gekürzt werden, dennoch ist ihre zahnärztliche Versorgung gleichermaßen gefährdet, da diese eng verknüpft ist mit der von kleinen Kindern. Narkosebehandlungen von Kindern mit und ohne Behinderungen werden in den meisten Praxen gemischt durchgeführt, es gibt keine Sondertermine für eine der beiden Patientengruppen.
Wenn der Anästhesist seine Arbeit einstellt, entfallen alle Narkosebehandlungen in der Praxis. Menschen mit geistiger Behinderung oder schwerer Dyskinesie, die das Erwachsenenalter erreichen und nicht mehr zu Hause betreut werden, entwickeln häufig parodontale Probleme.
Um auch diese Patienten weiterhin betreuen zu können, sind einige Zahnärzte bereits dazu übergegangen, die Anästhesisten aus ihren eigenen Honoraren zu finanzieren, sodass die „Mischung“ aus Kinderbehandlung und Behandlung von Menschen mit Beeinträchtigung erhalten bleibt. Einige anästhesiologische Kollegen machen aus alter Verbundenheit mit der Praxis weiter. Aber was passiert, wenn sie in den Ruhestand eintreten?
„Nicht nur das Finanzstabilisierungsgesetz macht uns zu schaffen, sondern in Niedersachsen auch die Honorarverteilung der Ärzte. Die Gruppe der niedergelassenen Anästhesisten ist klein, sie haben eine schwache Lobby und werden nicht gehört. Die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung begrenzte die Mittel für die Praxisbesonderheiten, und dadurch wird es für die kinderzahnärztliche Behandlung schwierig. Aber es darf nicht sein, dass Kinder die Leidtragenden sind.“
Best Practice
In Oldenburg macht das engagierte Zusammenarbeiten zwischen dem Klinikum Oldenburg, Zahnärztin Tanja Wittje und der Praxis von drs. Johanna Kant die zahnärztliche Behandlung vulnerabler Patienten in Narkose möglich. Patienten, die dafür stationär aufgenommen werden müssen, können im Klinikum auch zahnmedizinisch behandelt werden. Mehrmals im Jahr stellt das Klinikum dafür einen OP-Raum mit Kinderkardiologen und Kinderanästhesisten zur Verfügung. Der organisatorische Aufwand ist enorm, der Fachkräftemangel verursacht auch hier leider immer wieder Terminausfälle. Denn die Zahnärztin geht zum Behandeln mit zwei zahnmedizinischen Fachangestellten ins Krankenhaus, wofür sie sich den Tag frei plant. Im Anschluss an die Behandlung stellt sie dem Krankenhaus eine Rechnung. Da das Krankenhaus aber nicht nur die Zahnärztin bezahlen muss, sondern auch eigene Kosten hat, kann die Zahnärztin nur einen Bruchteil dessen abrechnen, was sie in der eigenen Praxis bekäme. „Da nach GOZ mit einem Faktor von maximal 1,3 bis 1,5 abgerechnet wird, liegen wir weit unter dem Kassensatz. Im Prinzip ist das purer Idealismus, sowohl vom Krankenhaus als auch von uns Zahnärztinnen, weil alle Beteiligten dabei einen Verlust machen. Bis auf die Patienten, die einen Gewinn haben“, erklärt Kant.
Zu wenig festgelegte Versorgungspfade
Die Unterversorgung vulnerabler Patienten beunruhigt nicht nur den Berufsverband, sondern ruft auch Wissenschaftler auf den Plan. Ein Team der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde an der Mund-, Zahn- und Kieferklinik des Universitätsklinikum Heidelberg hat Überlegungen angestellt, wie die gleichberechtigte Teilhabe von Betroffenen an der medizinischen Versorgung verbessert werden kann, und dafür eine Verteilungsmatrix entwickelt [2].
„Grundsätzlich sollte die medizinische Versorgung aller Patienten auf Basis wissenschaftlicher Evidenz und vorhandener Leitlinien erfolgen. Allerdings gibt es aktuell kaum an die besonderen Erfordernisse von vulnerablen Gruppen adaptierte und entwickelte Versorgungspfade im Sinne von Standard Operation Procedures (SOPs). Denn die Betreuung und Behandlung dieser Patientengruppe ist deutlich komplexer, variabler und zeitintensiver als die regelhafte Versorgung gesunder Menschen“, stellen Dr. Shirin El-Sayed, Dr. Hanna Hieronymus, Prof. Dr. Cornelia Freese und Prof. Dr. Diana Wolff fest.
Vier-Stufen-Modell als Lösung
Die Forscherinnen schätzen, dass Kinder und Menschen mit Behinderung einmal bis mehrmals im Verlauf ihres Lebens eine zahnmedizinische Behandlung in Narkose benötigen und in dieser Patientengruppe eine Unterversorgung existiert. Belastbare Zahlen zur erforderlichen Versorgungskapazität existieren momentan jedoch nicht.
Um die zahnmedizinische Versorgung dieser sehr heterogenen Patientengruppe besser strukturieren zu können und bedarfsgerechter durchführbar zu machen, haben die Forscherinnen in Anlehnung an die Einteilung der funktionellen Kapazität bei geriatrischen Patienten nach Nitschke et al. [1] die modifizierte zahnmedizinische funktionelle Kapazität (MZKap) entwickelt.

Tabelle 1: Bewertung der zahnmedizinischen funktionellen Kapazität von Patienten mit Beeinträchtigungen und Unterstützungsbedarf, modifiziert nach Nitschke et al. [2]
Sie soll zur Ermittlung der Fähigkeiten und Beurteilung der Einschränkungen des Patienten dienen, auf deren Grundlage der Behandlungsplan, der Behandlungsort und alternative Behandlungsmethoden festgelegt werden können. Die Einteilung erfolgt anhand von vier Stufen, die Gesamteinschätzung ermöglicht dann die Zuordnung zur zahnärztlichen Versorgungsstufe. Diese reicht dabei von einer hohen MZKap, die eine Wachbehandlung in einer regulären Zahnarztpraxis erlaubt, bis hin zur niedrigen MZKap, die in Narkose bei einem Maximalversorger erforderlich macht. [2]

Tabelle 2: Bei der Modifizierten Zahnmedizinischen funktionellen Kapazität (MZKap) finden die Aspekte Therapiefähigkeit, Kommunikation, Mundhygienefähigkeit sowie Transport- und Lagerungsfähigkeit des Patienten Berücksichtigung. Es erfolgt eine differenzierte Bewertung der Belastbarkeit, indem die individuellen Schwächen oder Einschränkungen berücksichtigt werden. Die Gesamteinschätzung erlaubt die Zuordnung zur zahnärztlichen Versorgungsstufe [2].
Forderungen an die Politik
Über die Ermittlung der MZKap könnten die Patienten im Hinblick auf ihre Belastbarkeit klassifiziert und individuelle Behandlungswege in der zahnärztlichen Versorgungslandschaft effizienter gebahnt werden. „So könnte durch klar organisierte Netzwerkstrukturen die Patientenverteilung und -aufklärung optimiert und die Betreuung vulnerabler Gruppen verbessert werden,“ resümieren die Heidelberger Autorinnen.
Die Vorsitzende des Bundesverbands der Kinderzahnärzte begrüßt das Vier-Stufen-Modell und hofft, dass das strukturierte Vorgehen auch von der Politik unterstützt und in die Tat umgesetzt wird. Weiterhin fordert Kant, dass die Prophylaxe ernst genommen wird und Zähne frühzeitig geschützt werden, frei nach dem Motto: Die beste Therapie ist die Prävention.
Ganz dringend appelliert sie, eine Umverteilung innerhalb der Ärzte-Honorare vorzunehmen, so dass die Anästhesisten bei der Behandlung in der Kinderzahnmedizin nicht weiter benachteiligt werden. „Nur so können wir Kinderzahnärzte indikationsgerecht arbeiten und Patienten wie Angehörigen lange Fahrt- und Wartezeiten ersparen. Der Gerechtigkeit wegen, aber vor allem der Kinder wegen.“
Brigitte Dinkloh
(wird fortgesetzt)
Quellen
[1] Nitschke I, et al. Die zahnmedizinische funktionelle Kapazität – ein Instrument in der Gerostomatologie. Alterszahnheilkunde, Quintessenz 2012;63(Nr. 2):207–210.
[2| El-Sayed, S., Hieronymus, H., Frese, C., & Wolff, D. (2024). Zahnmedizinische Versorgung vulnerabler Gruppen: Aktuelle Versorgungssituation und Strategien für die Zukunft. SZM/Zeitschrift für Senioren-Zahnmedizin, 12(1), 1–7.
drs. Johanna Maria Kant
drs. Johanna Maria Kant ist Vorsitzende des Bundesverbandes der Kinderzahnärzt:innen in Deutschland (BuKiZ). Die gebürtige Niederländerin arbeitet seit mehr als 35 Jahren in eigener Praxis in Oldenburg mit den Tätigkeitsschwerpunkten Kinderzahnheilkunde und Prophylaxe. Auch engagiert sie sich in der Vertreterversammlung der KZV Niedersachsen und der Kammerversammlung der Zahnärztekammer Niedersachsen.
Mitglied seit
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