Für eilige Leserinnen und Leser
- 1. Irreversible Pulpitiden bei bleibenden Zähne lassen sich häufig erfolgreich mit Pulpotomien behandeln.
- 2. Diagnostik rettet problematische Zähne, Vergrößerungshilfen sind Pflicht.
- 3. Ein Diagnosesystem hilft, möglichen Überweisungsbedarf zu klären.
- 4. Mikrobiologische und molekularbiologische Diagnostik könnte in Zukunft vor allem Revisionsbehandlungen verbessern.
Die Erfolgswahrscheinlichkeit sinkt schon bei Erstbehandlungen mit der Komplexität des Kanalsystems, dem Vorliegen einer apikalen Parodontitis und ungünstigen mikrobiologischen Befunden [1, 2]. Wer die Kampagne „Erhalte deinen Zahn“ der Deutschen Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie (DGET) [3] wörtlich nimmt, macht daher bei eröffneter Pulpa nach Möglichkeit schon vor einer Trepanation oder spätestens an den Eingängen des Wurzelkanalsystems halt.
Behandlungsempfehlungen für Caries profunda und Überkappungen bei akzidentell eröffneter Pulpa sind vorhanden, haben aber noch immer eine schwache Datenbasis [4-6]. Ist die Pulpa bei irreversibler Entzündung eröffnet, kann laut DGET eine „Pulpotomie als valide Behandlungsoption angesehen werden und kommt als Alternative zur Vitalexstirpation infrage“ [7]. Möglich sind auch partielle Pulpotomien oder die Exstirpation einzelner Kanäle, bei denen eine apikale Parodontitis vorliegt [8, 9]. Notwendig sind aber aseptisches Arbeiten unter Kofferdam und die Verwendung von Vergrößerungshilfen [7].
Wann überweisen?
Fast täglich stellt sich die Frage, ob ein Zahn in der eigenen, nicht spezialisierten Praxis behandelt werden sollte oder nicht. Als Hilfestellung kann eine Systematik dienen, die der Landesarbeitskreis Endodontie der sächsischen Landeszahnärztekammer aufgrund von Empfehlungen der American Association of Endodontists erarbeitet hat [10]. Die Einschätzung des Schwierigkeitsgrades basiert nach den Autoren des sächsischen Dokuments unter anderem auf optisch unterstützter intrakoronaler und intrakanalärer Diagnostik, die nach Paragraf 6, Absatz 1 GOZ berechenbar ist.
Bildgebende Diagnostik – und KI
Dreidimensionale Diagnostik mit DVT bietet nach einem Beitrag in der Deutschen Zahnärztlichen Zeitschrift (DZZ) „eine exzellente Prognose … und erlaubt dadurch eine hohe Sicherheit in der Therapieplanung“ [11]. Die Autorengruppe aus Hochschule und Praxis bezieht ihre positive Einschätzung unter anderem auf die chirurgische Endodontie und die Detektion von Wurzelfrakturen. Weiterhin ist es mit DVT demnach möglich, apikale Prozesse diagnostisch abzusichern. Antworten auf die Frage, wie die angestrebte Strahlenhygiene nach dem Prinzip „As Low as Diagnostically Acceptable“ (ALADA) umgesetzt werden kann, gibt bisher nur eine wissenschaftliche Stellungnahme der European Society of Endodontology (ESE) [12].
In Bezug auf apikale Diagnostik könnte ein neuer Index helfen, den Heilungsverlauf quantitativ einzuschätzen [13]. Dieser erfordert allerdings mehrere Aufnahmen mit entsprechender Strahlendosis. Eine Vergleichsstudie von DVT-Aufnahmen mit Mikro-CT-Bildern (in vitro) von chirurgisch entfernten Wurzelspitzen spricht dafür, dass apikale Prozesse bei Revisionen mit DVT-Diagnostik nur unzureichend beurteilt werden können [14]. Auch die Frage, ob künstliche Intelligenzsysteme Nutzen bringen, die mit zahlreichen Diagnosen trainiert wurden, kann noch nicht beantwortet werden [15, 16].
Erschwerter Zugang: Anteile der Pulpakammer sind häufig durch Tertiärdentin stark eingeengt. Bei diesem Zahn 27 eines 63-Jährigen war sie in mesiodistaler Ausdehnung stark abgeflacht und nur mit großen Schwierigkeiten zu finden (die weiße Struktur ist eine Kompositfüllung). Da die Orientierung bei der Aufbereitung vorwiegend visuell erfolgt, ist eine gute optische Ausstattung erfolgsentscheidend.
👉 Sie möchten das Video in vollen Umfang auf Ihrer Praxis Homepage einbinden? Mehr Infos unter: www.transparentmacher.de
Marginale Parodontitis erhöht Risiko für apikale Läsionen
Es kann selten schaden, den eigenen Blickwinkel zu erweitern, und das gilt auch für zahnärztliche „Kanalarbeiter“. Eine retrospektive Studie zeigt wenig überraschend, dass Parodontitispatienten ein mehr als fünfmal höheres Risiko für apikale parodontale Läsionen haben [17, 18]. Umgekehrt scheinen endodontische Behandlungen keinen negativen Einfluss auf das marginale Parodont zu haben [19].
Dagegen erhöhen sowohl parodontale als auch endodontische Entzündungen das Risiko für Sinusitiden, besonders bei entsprechender Nähe des Prozesses zur Kieferhöhle [20]. Die brasilianischen Autoren folgern, dass bei therapieresistenter Sinusitis ein DVT zur Abklärung dentaler Ursachen erfolgen sollte. Mikrobiologisch zeigen bei Paro-Endo-Läsionen die parodontalen Taschen eine höhere Diversität als die infizierten Wurzelkanäle [21]. Kalziumhydroxid-Medikationen waren jedoch geeignet, pathogene Bakterien und Endotoxine in beiden Bereichen zu reduzieren.
Ausblick
Die Endodontologie entwickelt sich als Wissenschaft schnell weiter. Die europäische Fachgesellschaft ESE hat einen Prozess in Gang gebracht, in dem S3-Therapie-Leitlinien nach dem von der European Foundation of Periodontology erarbeiteten Muster erstellt werden sollen (umgesetzt auch in der neuen S3-Therapie-Leitlinie der DG Paro) [22].
Zunehmend werden das an endodontischen Infektionen beteiligte Mikrobiom und immunologische „Biomarker“ erforscht [23, 24]. Beides könnte in Zukunft zu verbesserten Diagnosemöglichkeiten führen, beginnend bei einer Pulpitis und wohl besonders bedeutsam bei Revisionen und zur Vermeidung von Antibiotikaresistenzen [1, 25]. Ähnlich wie in der Parodontologie ist das Thema aber hoch komplex, sodass aussagekräftige Tests auf sich warten lassen. Differenzierte klinische Befunderhebung und Erfahrung werden wohl immer – und erfreulicherweise – die Basis für erfolgreiche Diagnostik bleiben.
Dr. Jan H. Koch, Freising
(wird fortgesetzt)
Hinweis: Beiträge in der Rubrik „Oralmedizin kompakt“ können die klinische Einschätzung des Lesers nicht ersetzen. Sie sollen vielmehr – auf der Basis aktueller Literatur und/oder von Expertenempfehlungen – die eigenverantwortliche Entscheidungsfindung unterstützen.
Oralmedizin kompakt: Frisches Wissen für Ihre Praxis
Für Ihre Patienten wollen Sie auf dem Laufenden bleiben. Welche Methoden funktionieren und welche nicht? Welche medizinischen Hintergründe sollten Sie kennen? Fachjournalist Dr. med. dent. Jan H. Koch sichtet für Sie laufend deutschsprachige und internationale Publikationen – und liefert Antworten. Die Beiträge finden Sie online auf unserer Landingpage. Gehen Sie auf Entdeckungsreise!
Literatur
[1] Al-Ahmad A, Hellwig E. Das Keimspektrum des Endodonts. zahnärztliche mitteilungen 2020;110:64-68.
[2] Ng YL, Mann V, Rahbaran S, Lewsey J, Gulabivala K. Outcome of primary root canal treatment: systematic review of the literature -- Part 2. Influence of clinical factors. International endodontic journal 2008;41:6-31.
[3] Deutsche Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztiche Traumatologie (DGET). Wurzelkanalbehandlung: https://www.erhaltedeinenzahn.de/de/erhaltedeinenzahn/1012/wurzelbehandlung.html.
[4] Bjørndal L, Simon S, Tomson PL, Duncan HF. Management of deep caries and the exposed pulp. International endodontic journal 2019;52:949-973.
[5] European Society of Endodontology, Duncan HF, Galler KM, Tomson PL, Simon S, El-Karim I, et al. European Society of Endodontology position statement: Management of deep caries and the exposed pulp. International endodontic journal 2019;52:923-934.
[6] Cushley S, Duncan HF, Lappin MJ, Chua P, Elamin AD, Clarke M, et al. Efficacy of direct pulp capping for management of cariously exposed pulps in permanent teeth: a systematic review and meta-analysis. International endodontic journal 2021;54:556-571.
[7] Deutsche Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie (DGET), Krastl G, Galler K, Dammaschke T, Schäfer E. Ist die Pulpotomie eine valide Behandlungsoption bei irreversibler Pulpitis? Wissenschaftliche Mittelung der Deutschen Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie (DGET). Dtsch Zahnärztl Z 2021;76:114-122.
[8] Koli B, Chawla A, Logani A, Kumar V, Sharma S. Combination of Nonsurgical Endodontic and Vital Pulp Therapy for Management of Mature Permanent Mandibular Molar Teeth with Symptomatic Irreversible Pulpitis and Apical Periodontitis. Journal of endodontics 2021;47:374-381.
[9] Lin GSS, Hisham ARB, Ch Er CIY, Cheah KK, Ghani N, Noorani TY. Success rates of coronal and partial pulpotomies in mature permanent molars: a systematic review and single-arm meta-analysis. Quintessence Int 2021;0:0.
[10] Helbig I, et al. Ermittlung des Schwierigkeitsgrades einer Wurzelkanalbehandlung. zahnärztliche mitteilungen 2021;111:44-55.
[11] Bürklein S, Schloss T, Semper M, Thonemann B. DVT in der chirurgischen Endodontie - ein „Must-have“?!*. Dtsch Zahnärztl Z 2021;76.
[12] Patel S, Brown J, Semper M, Abella F, Mannocci F. European Society of Endodontology position statement: Use of cone beam computed tomography in Endodontics: European Society of Endodontology (ESE) developed by. International endodontic journal 2019;52:1675-1678.
[13] Boubaris M, Chan KL, Zhao W, Cameron A, Sun J, Love R, et al. A Novel Volume-based Cone-beam Computed Tomographic Periapical Index. Journal of endodontics 2021;47:1308-1313.
[14] Villa-Machado PA, Restrepo-Patiño DM, Calvo-Trejos JP, Restrepo-Restrepo FA, Tobón-Arroyave SI, Provenzano JC, et al. Cone-beam Computed Tomographic and Micro–computed Tomographic Evaluations of the Root Apexes of Teeth with Posttreatment Apical Periodontitis. Journal of endodontics 2020;46:1695-1701.
[15] Orhan K, Bayrakdar IS, Ezhov M, Kravtsov A, Özyürek T. Evaluation of artificial intelligence for detecting periapical pathosis on cone-beam computed tomography scans. International endodontic journal 2020;53:680-689.
[16] Brignardello-Petersen R. Artificial intelligence system seems to be able to detect a high proportion of periapical lesions in cone-beam computed tomographic images. The Journal of the American Dental Association 2020;151:e83.
[17] Ruiz X-F, Duran-Sindreu F, Shemesh H, García Font M, Vallés M, Roig Cayón M, et al. Development of Periapical Lesions in Endodontically Treated Teeth with and without Periodontal Involvement: A Retrospective Cohort Study. Journal of endodontics 2017;43:1246-1249.
[18] Brignardello-Petersen R. Endodontically treated teeth that receive nonsurgical periodontal treatment are more likely to develop apical periodontitis than periodontally healthy teeth. The Journal of the American Dental Association 2017;148:e148.
[19] Rodriguez F-R, Paganoni N, Eickholz P, Weiger R, Walter C. Presence of root canal treatment has no influence on periodontal bone loss. Clinical Oral Investigations 2017;21:2741-2748.
[20] de Lima CO, Devito KL, Baraky Vasconcelos LR, Prado Md, Campos CN. Correlation between Endodontic Infection and Periodontal Disease and Their Association with Chronic Sinusitis: A Clinical-tomographic Study. Journal of endodontics 2017;43:1978-1983.
[21] Louzada LM, Arruda-Vasconcelos R, Duque TM, Casarin RCV, Feres M, Gomes BPFA. Clinical Investigation of Microbial Profile and Levels of Endotoxins and Lipoteichoic Acid at Different Phases of the Endodontic Treatment in Teeth with Vital Pulp and Associated Periodontal Disease. Journal of endodontics 2020;46:736-747.
[22] Duncan HF, Nagendrababu V, El-Karim IA, Dummer PMH. Outcome measures to assess the effectiveness of endodontic treatment for pulpitis and apical periodontitis for use in the development of European Society of Endodontology (ESE) S3 level clinical practice guidelines: a protocol. International endodontic journal 2021;54:646-654.
[23] Herzog DB, Hosny NA, Niazi SA, Koller G, Cook RJ, Foschi F, et al. Rapid Bacterial Detection during Endodontic Treatment. Journal of Dental Research 2017;96:626-632.
[24] Nair PN. Apical periodontitis: a dynamic encounter between root canal infection and host response. Periodontol 2000 1997;13:121-148.
[25] Liu L, Wang T, Huang D, Song D. Comprehensive Analysis of Differentially Expressed Genes in Clinically Diagnosed Irreversible Pulpitis by Multiplatform Data Integration Using a Robust Rank Aggregation Approach. Journal of endodontics 2021;47:1365-1375.