Interview: Dr. Dirk Bleiel ist Spezialist für Seniorenzahnmedizin. Der DZW erklärte er, warum kein Zahnarzt an diesem Bereich in Zukunft vorbeikommen wird.
Seit zehn Jahren ist Dr. Dirk Bleiel Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin (DGAZ). Er ist außerdem einer von bundesweit 77 Spezialisten für Seniorenzahnmedizin. Warum der Bedarf in diesem Bereich riesig ist und vor welche Herausforderungen die Zahnmedizin dadurch gestellt wird, erklärte er DZW-Redakteurin Evelyn Stolberg im Interview.
Aufruf
Kolleginnen und Kollegen, die an der praktischen Umsetzung des Paragrafen 22a SGB V und der Gründung einer Aktionsgemeinschaft zahnmedizinische Prävention in der Pflege (AZPIP) interessiert sind, werden gebeten, sich bei der Redaktion der DZW – Die ZahnarztWoche unter pflege@dzw.de oder per Fax unter (0228) 28 92 16-20 zu melden.
Als unabhängige Wochenzeitung für die Dentalbranche wird die DZW-Redaktion die Arbeitsgemeinschaft bis zu ihrer Gründung organisatorisch begleiten und über ihre Arbeitsergebnisse berichten.
Dr. Bleiel, wie ist es um die Mundgesundheit der Älteren in Deutschland bestellt? Wie sieht es beispielsweise in den Seniorenheimen aus?
Dr. Dirk Bleiel: Ich will ganz ehrlich sein: Viele meiner Kollegen fahren nach Afrika, um etwas Gutes zu tun. Dabei müssten sie nur das Pflegeheim um die Ecke besuchen. Das Elend liegt manchmal direkt vor der Haustür.
Wie meinen Sie das?
Dr. Bleiel: Meist treffe ich dort auf Menschen mit hochversorgten Zähnen und sehr schlechter Mundhygiene. Vor 20 Jahren war es noch üblich, im Alter eine Totalprothese zu haben. Die konnte man rausnehmen, saubermachen und wieder einsetzen. Heutzutage haben nur noch rund 20 Prozent der Senioren Vollprothesen, dafür stellt uns die qualitativ hochwertige Versorgung mit Implantaten, Kronen und Brücken vor große Probleme. Die sind natürlich toll, wenn man dreimal im Jahr zur PZR gehen und sich ansonsten selbst die Zähne putzen kann. Als Pflegefall sind Sie jedoch auf Andere angewiesen. Und dann kann es kritisch werden mit der Mundhygiene. Manchmal bekomme ich Teilprothesen zu sehen, da kann einem selbst als Zahnarzt schlecht werden.
Sie besuchen als Zahnarzt einmal pro Woche das Altenheim Christinenstift in Unkel. Wie kam es dazu?
Bleiel: Als mein Vater ein Pflegefall wurde, war auf einmal die Seniorenzahnmedizin für mich ein zentrales Thema. Er hatte einen Schlaganfall, war halbseitig gelähmt und konnte sich nicht mehr selbst die Zähne putzen. Das war echt ein Problem. Etwa zeitgleich zogen zwei meiner langjährigen Patienten ins Christinenstift in Unkel. Ich wollte sie weiter behandeln und bin deshalb dorthin gefahren. Darüber kam ich ins Gespräch mit dem Pflegedienstleister, und vor drei Jahren haben wir einen Kooperationsvertrag nach Paragraf 119b SGB 5 geschlossen. Mittlerweile bin ich dort jeden Donnerstag auf Hausbesuch.
Welche Vorteile hat ein zahnmedizinischer Kooperationsvertrag?
Bleiel: Durch das PNG, das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz, werden Kooperationen zwischen Zahnarzt und Altersheim durch die Landes-KZVen vermittelt. Wir Zahnärzte können dann spezielle Bema-Punkte abrechnen. Das ist nicht nur wirtschaftlich attraktiv, auch fällt die notwendige Anforderung weg, so dass wir unsere vorsorgenden Konzepte realisieren können.
Reine Feuerwehreinsätze, – ich komme erst, wenn es zu spät ist, weil erst dann werde ich informiert – bleiben die Ausnahme.
Ich muss nicht erst auf einen Anruf des Betreuers oder Pflegers warten, der mich bittet, einen Bewohner zu behandeln. Kooperationen stärken das „mundgesunde“ Bewusstsein in den Einrichtungen. Durch die Kooperation kann ich meine Besuche zum Glück besser planen und koordinieren, kann Prophylaxe anbieten und habe die Möglichkeit, die Pfleger zu schulen und habe Ansätze, dies auch abzurechnen.
Pflegebedürftige haben – laut Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses – künftig einen verbindlichen Rechtsanspruch auf zusätzliche zahnärztliche Vorsorgemaßnahmen in der GKV. Wie wird das Ihre Arbeit – und die Ihrer Kollegen – beeinflussen?
Bleiel: Sie meinen das Inkrafttreten des § 22a SGB V im Juli 2018. Diese Bedingungen werden mir und meinen Kollegen die Arbeit sicher erleichtern, weil sie Restriktionen abbauen. Künftig hat jeder Patient das Recht auf eine Bestandsaufnahme der Situation in seinem Mundraum und ebenfalls auf die Entwicklung eines Behandlungsplans. Auch die Kostenfrage der aufsuchenden Betreuung wurde ja inzwischen verbessert.
Gibt es überhaupt ausreichend Kollegen, die das stemmen können?
Bleiel: Die Zahl der Spezialisten für Seniorenzahnmedizin ist im Vergleich zur ständig wachsenden Klientel sicher viel zu niedrig. Das Thema wird im Studium nur am Rande behandelt und viele Fachrichtungen, wie etwa die Prothetik, vertreten nicht selten den Standpunkt, dass sie doch schon immer Ältere und Pflegebedürftige betreut hätten und deshalb schon wüssten, wie das geht. Der übliche universitäre Fächerkanon bildet die Seniorenzahnmedizin nicht ausreichend ab. Eine fachübergreifende Lehre im Studium, mehr Fortbildungen im Bereich der Seniorenzahnmedizin und ein verstärktes Problembewusstsein in Kollegenschaft muss zu einer besseren Versorgung der Senioren führen.
Berichten Sie mal aus der Praxis: Wie intensiv kümmern sich die Pflegekräfte in den Altenheimen um die Mundhygiene?
Bleiel: Leider wechseln die Pflegekräfte in vielen Altersheimen oft, weil es ein schlecht bezahlter Knochenjob ist. Einige sehen die Mundhygiene auch als eher nebensächlich an, was bei der Fülle von Aufgaben auch fast verständlich ist. Mehr als „satt und sauber“ scheint oft bei dem Pflegenotstand nicht mehr möglich. Dabei gehört laut Pflegekatalog die Mundpflege zur Grundpflege dazu. Dafür stehen pro Tag und Bewohner etwa drei Minuten zur Verfügung. Die Theorie ist also erfüllt, nur in der Praxis sieht es leider anders aus. In manchen Heimen muss sich ein Pfleger um rund 30 Bewohner pro Tag kümmern. Manche sind bettlägerig, andere wehren sich und wollen sich nicht die Zähne putzen lassen. Das macht es natürlich nicht einfacher.
Hier in Unkel haben wir vergleichsweise sehr gute Bedingungen. Das Pflegepersonal kann ich bei der Behandlung dazuholen und die Pfleger anleiten. Denn einige trauen sich nicht, den Bewohnern die Zähne zu putzen, weil sie Angst haben, sie könnten ihnen dabei weh tun. Wenn ich Ihnen aber die schmerzhaften Konsequenzen des Nicht-Putzens zeige, klappt es meistens deutlich besser. Vor allen Dingen, wenn sich Bewohner und Pfleger an die tägliche Routine gewöhnt haben.
Wie gut ist das Personal ausgebildet?
Bleiel: In den drei Jahren Ausbildungszeit zum Altenpfleger wird die Zahn- und Mundpflege nicht ausreichend abgebildet. Das muss sich dringend mit der Pflegenovelle ändern. Zum Glück kann ich durch meine Kooperation mit dem Christinenstift hier ein- bis zweimal pro Jahr Schulungen anbieten. Dem Personal bringe ich dann in etwa einer Stunde die Theorie bei, indem ich die wichtigsten Aspekte der Mundhygiene erkläre. Anschließend üben wir praktisch an einem Dummy oder versorgen einen Patienten, falls sich einer dazu bereiterklärt.
Bei meinen regelmäßigen Besuchen im Heim hole ich manchmal Pfleger auch direkt ans Bett eines Bewohners, um etwas zu erklären. Außerdem hilft auch folgendes Argument: Wenn man regelmäßig den Mund pflegt, machen die Bewohner – selbst wenn sie sich anfangs daran gewöhnen müssen oder sogar wehren – gut mit. Und weil Menschen, die gut kauen und schlucken können, schneller essen als solche, die dabei Schmerzen haben, bleibt den Pflegern auf lange Sicht mehr Zeit für andere Aufgaben.
Was machen Sie bei dementen Patienten?
Bleiel: Demente Patienten sind häufig nur schwer dazu zu bewegen, den Mund zu öffnen. Oft klappt es, wenn ich ihren Mund mit Essen oder einem Getränk befeuchte, das sie gerne mögen. Was das sein könnte, wissen meistens die Angehörigen oder Pfleger. Bei manchen Patienten ist es Vanillepudding, bei anderen Bier. Das ist so individuell wie die Menschen selbst. Ich reibe ihre Lippen vorsichtig damit ein und merke meistens nach einer halben Minute, wie sie sich lockern. Wenn es soweit ist, schiebe ich behutsam zwei Finger dazwischen und spreize den Mund auseinander. Dann schiebt meine ZFA schnell eine Aufbisshilfe dazwischen. Sie schützt den Patienten und mich vor Verletzungen durch ein versehentliches Zubeißen und sorgt gleichzeitig dafür, dass ich in Ruhe meine Patienten behandeln kann, weil der Mund offen bleibt.
Lohnen sich die Hausbesuche finanziell?
Bleiel: Grundsätzlich ist eine volle Praxis immer am wirtschaftlichsten. Aber man darf nicht vergessen, dass in einem Seniorenheim auch viele Menschen sind, bei denen man nur von Zimmer zu Zimmer gehen muss. Man kann es natürlich auch so organisieren, dass sich die mobileren Patienten in einem Raum treffen, wo sie der Reihe nach behandelt werden. So mache ich es in Unkel, und das rechnet sich dann. Folgendes darf man aber auch nicht außer Acht lassen: Durch meine Hausbesuche im Altenheim haben viele neue Patienten zu mir in die Praxis gefunden, denn den Menschen gefällt es, wenn Zahnärzte – um es mal stereotyp auszudrücken – nicht mit dem Porsche zum Golfplatz fahren, sondern sich für die Menschen einsetzen, denen es nicht so gut geht. Es ist also nicht alles ideelles Engagement, es rechnet sich einerseits wirtschaftlich und ist andererseits positives Marketing für unsere Branche und die eigene Praxis.
Wir wird sich der Bereich der Seniorenzahnmedizin Ihrer Meinung nach entwickeln?
Bleiel: Der Bedarf ist jetzt schon riesengroß, und die Menschen werden immer älter. Deshalb bin ich mir sicher, dass es in ein paar Jahren zum Alltag gehören wird, die Patienten vor Ort zu betreuen. Dabei ist gerade die Seniorenzahnmedizin spannend, weil man fächerübergreifend arbeiten kann. Außerdem schadet es nicht, mal die eigene Praxis zu verlassen und bei den Hausbesuchen andere Wohnzimmer zu sehen. Kein Kollege wird in Zukunft daran vorbeikommen, da bin ich mir absolut sicher! Und ich bin mir auch sicher, dass jeder, der dieses Feld links liegen lässt, wirtschaftliche Probleme bekommen wird. Trotzdem – das ist mir auch klar – muss die Seniorenzahnmedizin noch attraktiver gestaltet werden, besonders, was die Wirtschaftlichkeit der ambulanten Hausbesuche bei einzelnen Patienten betrifft.
Muss ein Umdenken passieren?
Bleiel: Das muss es auf jeden Fall. Denn die Barrierefreiheit beginnt im Kopf. Oft ist es so, dass Pflegebedürftige in Deutschland als alt, gebrechlich und lästig angesehen werden. Viele Zahnärzte sehen sie als menschliche und finanzielle Belastung an und haben deshalb keine Lust, sich auf diese Menschen einzulassen.
Zweifelsohne bleibt es mühsam, Koffer zu packen, zu planen und zu therapieren unter Camping-Bedingungen. Es stellt aber auch eine charmante Abwechslung zum täglichen Praxisalltag dar. Hausbesuche sind sehr nah an unserem Berufsbild: Hier kann viel Gutes getan werden. Wirtschaftlich sind sie sicherlich tragbar.
Und vergeblich ist es nicht, gerade einer besonders hilfsbedürftigen und meist zahnmedizinisch schlecht versorgten Klientel am Rande der Gesellschaft zu helfen.