Screening-Tools: KI und Apps als Perspektive in der Mundkrebsdiagnostik
Anlässlich des Weltnichtrauchertags am 31. Mai wurde wieder einmal betont, wie wichtig die Früherkennung von Plattenepithelkarzinomen ist. Die Risikofaktoren Rauchen und Alkohol erhöhen das Risiko gemeinsam um den Faktor 30. Goldstandard für die primäre Diagnostik im Sinne eines Screenings bleibt auch weiterhin die visuelle Untersuchung der Mundhöhle. Dazu gehört die Inspektion des Rachenrings mit dorsalem Holzspateldruck auf die nicht herausgestreckten Zunge [1].
Siehe dazu auch die Beiträge von DDr. Christa Eder:
Teil 1: Frühdiagnose verhindert orale Karzinome
Teil 2: Früherkennung verhindert
invasive Neoplasien
Teil 3: Kanzerogene Noxen und genetische Erkrankungen
Teil 4: Das orale Plattenepithelkarzinom
Eine im Dezember 2021 publizierte systematische Übersicht der Cochrane Collaboration mit strenger Studienauswahl bestätigt geltende Leitlinien [2]. Demnach beträgt die Sensitivität einer oralen Inspektion, also die Wahrscheinlichkeit, ein Karzinom oder eine potenzielle Praekanzerose wie Eryhtroplakie richtig zu erkennen, zwischen 0.50 und 0.99. Die Spezifität (Anteil richtig negativer Ergebnisse) lag zwischen 0.94 und 0.99. Vitales Anfärben mit Toluidinblau hat einen moderaten zusätzlichen Nutzen, der jedoch nur für Raucher gezeigt werden konnte. Betont wird auch, dass die Datenlage zur Primärdiagnostik insgesamt dünn sei [2]. Zudem berücksichtigen weltweit geltende Leitlinien offenbar nur unzureichend praktische Aspekte wie Integration in den Praxisablauf und Honorierung [3].
Für eilige Leser
- Nach einer Cochrane-Analyse ist die visuelle Diagnostik in der täglichen Praxis weiterhin das Standardverfahren, trotz begrenzter Evidenz (Stand 10/2020).
- Anfärben mit Toluidinblau hat einen geringen Zusatznutzen (untersucht nur in Hochrisikopatienten).
- Für lichtbasierte Verfahren oder die Analyse von Biomarkern in Speichel und Blut wurden keine aussagekräftigen Studien gefunden.
- Für Selbstdiagnose durch Patienten gibt es wenig Evidenz.
- Eine neuere Studie zeigt vielversprechende Ergebnisse für die KI-basierte Auswertung von Smartphone-Fotos.
Fehlanzeige bei Biomarkern und Lichtdiagnostik
Etwas überraschend gibt es laut Cochrane-Review für die primäre orale Diagnostik bis Oktober 2020 keine relevanten Studien zu oralen Biomarkern in Blut, Speichel oder Atemluft [2]. Dies stimmt mit Ergebnissen aus der übrigen Medizin überein, die zum Beispiel für blutbasierte Biomarker-Tests eine geringe Sensitivität von durchschnittlich 76 Prozent für die zwölf häufigsten Krebsarten zeigen [4]. Wie in der visuellen Diagnostik ist die Erkennungswahrscheinlichkeit bei frühen Tumorstadien geringer (I und II), sodass der Sinn von Screenings fraglich ist. Dagegen können Biomarker helfen, die Prognose bereits festgestellter Krebserkrankungen einzuschätzen [5].
Bürstenbiopsie und HPV
Nicht direkt besprochen wird im Cochrane-Review die Bürstenbiopsie als minimal-invasives zytologisches Diagnoseverfahren. Dabei werden der mithilfe spezieller Kunsstoffbürstchen Zellen aus oberflächlichen Schichten einer potenziellen malignen Veränderung entnommen und im Speziallabor ausgewertet [2]. Da für eine sichere Anwendung Erfahrungen zum Entnahmebereich notwendig sind, empfiehlt die aktuelle deutsche Leitlinie die Bürstenbiopsie nur für Fälle, in denen kein konkreter Verdacht, aber eine „Restunsicherheit“ in Bezug auf maligne Entartung besteht [1]. Zu lichtbasierter Diagnostik auf der Basis von Reflektion oder Autofluoreszenz fand das Cochrane-Review ebenfalls keine validen Daten [2].
Ein spezifisches Screening für HPV-Viren wurde vor einigen Jahren diskutiert [6]. Es erlaubt nur Aussagen zu viral bedingten Karzinomen und wurde ebenfalls noch nicht in großen Kollektiven validiert. Kommerziell erhältliche Tests für den meist ursächlichen HPV-Serotyp 16 können aber als ergänzendes Verfahren in Risikogruppen sinnvoll einsetzbar sein.
Selbstdiagnose per Smartphone?
Diagnoseverfahren auf der Basis künstlicher Intelligenz (KI) werden zunehmend getestet und sind vor allem in der Radiologie bereits kommerziell erhältlich. Selbstlernende Systeme werden in der Onkologie zum Beispiel für Biomarker-Bluttests eingesetzt, aber auch in bildbasierten Systemen. So zeigt eine aktuelle Studie, dass mit einer Smartphone-App aufgenommene und in einer KI-basierten Software analysierte Bilder recht zuverlässig zwischen gesunden und erkrankten Geweben unterscheiden können [7]. Die Sensitivität betrug 86, die Spezifität 96 Prozent, was die Autoren und auch der MKG-Chirurg Prof. Dr. Dr. Martin Kunkel in einer Studienbesprechung der Zeitschrift „Die MKG-Chirurgie“ (Springer) als klinisch relevant ansehen [8]. Die Ergebnisse seien mit analoger Diagnostik durch erfahrene Kliniker vergleichbar. Noch nicht gelöst sei das Problem, dass einige Regionen fotografisch nicht gut erfasst werden können (Logen, Zungengrund etc.). Perspektivisch könnte aber bald eine Ferndiagnostik für in entlegenen Gegenden lebende Menschen möglich sein und die Versorgung verbessern helfen.
Fazit: Die Datenlage erlaubt aktuell (noch) keine Screening-Empfehlungen, die über die systematische und sorgfältige Inspektion von Mundhöhle, Rachenring und möglichst auch den perioralen Bereich hinausgehen. Grund ist, dass für die meisten Studien Daten nur getrennt nach (bekannt) Erkrankten oder nicht Erkrankten erhoben wurden [2]. Notwendig wären große Patientenkollektive mit zuvor unbekannter Diagnose. Entwicklungen in den Bereichen visuelle Zusatzverfahren, Biomarker und KI-gesteuerte Bildauswertung lassen aber für die Zukunft verbesserte Screeningmöglichkeiten erwarten.
Dr. med. dent Jan H. Koch, Freising
Hinweis: Beiträge in der Rubrik Oralmedizin kompakt können nicht die klinische Einschätzung des Lesers ersetzen. Sie sollen lediglich – auf der Basis aktueller Literatur und/oder von Experten-Empfehlungen – die eigenverantwortliche Entscheidungsfindung unterstützen. Dieser Beitrag wurde am 10. 7. 2024 aktualisiert.
Literatur
[1] DGMKG. Diagnostik und Management von Vorläuferläsionen des oralen Plattenepithelkarzinoms in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Leitlinie S2k, Registernummer 007-092. Stand: 1.9.2019 , gültig bis 31.8.2024. 2020.
[2] Walsh T, Warnakulasuriya S, Lingen MW, Kerr AR, Ogden GR, Glenny AM, et al. Clinical assessment for the detection of oral cavity cancer and potentially malignant disorders in apparently healthy adults. Cochrane Database of Systematic Reviews 2021.
[3] Madera M, Franco J, Solà I, Bonfill X, Alonso-Coello P. Screening and diagnosis of oral cancer: a critical quality appraisal of clinical guidelines. Clinical Oral Investigations 2019;23:2215-2226.
[4] Müller T. Krebsdiagnostik. Hochspezifischer Bluttest erkennt zwölf Tumoren. https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Hochspezifischer-Bluttest-erkennt-zwoelf-Tumoren-421139.html. aerztezeitungde 2021.
[5] Patil S, Warnakulasuriya S. Blood-based circulating microRNAs as potential biomarkers for predicting the prognosis of head and neck cancer—a systematic review. Clinical Oral Investigations 2020;24:3833-3841.
[6] Koch JH. ZahnMedizin kompakt: Inspektion der Mundschleimhaut ist auch bei HPV-Testung Pflicht. Mit Statements Prof. Dr. Dr. Jürgen Hoffmann (Heidelberg) und Dr. Ralf Hilfrich (Abviris). Die ZahnarztWoche 2017:10-11.
[7] Lin H, Chen H, Weng L, Shao J, Lin J. Automatic detection of oral cancer in smartphone-based images using deep learning for early diagnosis. J Biomed Opt 2021;26.
[8] Kunkel M. Smartphone-basierte Früherkennung oraler Vorläuferläsionen und Mundhöhlenkarzinome. Die MKG-Chirurgie 2022;15:139-140