Anzeige
Willkommen in der Wirklichkeit
Zum Neuhahrsempfan der Zahnärzteschaft waren traditionell Vertreter aller Bundestagsfraktionen geladen. Es gab aber auch eine Überraschung.

Zum Neujahrsempfang der Zahnärzteschaft waren traditionell Vertreter aller Bundestagsfraktionen geladen. Es gab aber auch eine Überraschung.

In einer bizarren Mischung aus Notwendigkeit und erfolgreichem Lobbyismus öffnet die Politik die Schranken des Zugangs zum Gesundheitswesen.

Willkommen im lukrativen Gesundheitsmarkt mit Aussichten auf eine Milliarde Euro plus am Tag. Hier agieren Kassen im „Fairen Wettbewerb“ und teuren Werbekampagnen um chillige Jungversicherungspflichtige. Und die innovativen digitalen Start-ups spüren spätestens seit dem DVG, dass nun ihre große Stunde kommen wird.
Tino Sorge, gesundheitspolitischer Berichterstatter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, selbstinszenierender Teil der Spahn-­Entourage und großer Freund der Digitalwirtschaft, versteigt sich gar zu der kühnen These: „Klar ist aber auch: Unser Gesundheitswesen ist kein Spielplatz und kein Versuchsgelände für Datenschützer.“ Kritik? Unerwünscht. Freie Fahrt für freie Gewinnaussichten. Wer braucht schon dieses Wohlfühl-Gemeinwesen.

In der Kürze

Aber beginnen wir am Anfang. Traditionell und damit erwartbar luden Bundeszahnärztekammer und Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung zum Neujahrsempfang ein – in die Parlamentarische Gesellschaft direkt hinter dem Berliner Reichstagsgebäude. Der Empfang dient dem Austausch von Standespolitik, Akteuren des Gesundheitswesens und Mitgliedern des Deutschen Bundestages. Üblicherweise reden hier dann neben dem BZÄK-Präsidenten und dem KZBV-­Vorstandsvorsitzenden die Gesundheitspolitischen Sprecher der Bundestagsfraktionen. Das sind im derzeitigen Parlament sechs. Dieses Jahr wollten, konnten, sollten sie nicht alle kommen. Die dzw hat zumindest allein Frau Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) gesichtet. Statt ihrer sprach nun allein Erwin Rüddel, MdB (CDU), Vorsitzender des Ausschusses für Gesundheit Bundestag für alle Fraktionen. Eine erste kleine Überraschung. Ob nun freiwillig oder nicht, die Gesamtredezeit war nun deutlich verkürzt – die politischen Perspektiven auch.

Reden ist Silber

Dr. Peter Engel, Präsident der BZÄK, eröffnete den Rede-Reigen. Väterlich mahnend sprach er von der „Dauerbaustelle“ des Trends zur „Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung“. Engel: „So wird manch ein Patient sagen: ‚Ist mir doch egal, wie eine Praxis finanziert ist, Hauptsache, ich bin gut und richtig versorgt.‘ Das ist ein frommer Wunsch.“
Erwin Rüddel hatte reichlich Honig dabei und verteilte ihn brav in Bärte und glattrasierte Gesichter: „Die Zahnärzte sind hier vorbildlich unterwegs, was das Thema Prävention angeht. Die zahnärztliche Prävention ist ein Erfolgsmodell.“ In den hinteren Reihen fielen die ersten in tiefen Schlaf. Rüddel: „Ein Thema, das Ihnen derzeit am Herzen liegt, sind Medizinische Versorgungszentren. Die Rahmenbedingen von MVZ an der Versorgung werden vom Gesetzgeber kontinuierlichüberprüft und weiterentwickelt. Vielleicht das als Hoffnung.“ Die stirbt ja bekanntlich zuletzt.

Des Pudels Kern

Dr. Wolfgang Eßer kündigte seine Rede als kurz und knackig an. Und das war sie auch. Rhetorisch gut aufgelegt präsentierte er die standespolitische Erfolgsbilanz des vergangenen Jahres. KfO, Zahnersatz, Degression ...soweit war es zu erwarten. Aber dann kam die Überraschung. Eßer: „Es ist eine ganz grundsätzliche Frage für uns und auch für mich.“ Das Vertrauensverhältnis von Patienten und weisungsunabhängigen, freiberuflichen Ärzten sei der Eckpfeiler unseres freiheitlichen Gesundheitswesens.

Dann wurde Eßer konkret, sehr konkret und sehr direkt. Er nahm Bezug auf eine Bundestagsdebatte zu einem Antrag der Fraktion Die Linke zu „Kapitalinteressen in der Gesundheitsversorgung“. Eßer: „ Eine Aussage ist bei mir hängengeblieben, die hat  mich verstört und betroffen gemacht. Sinngemäß: Es sei gleichgültig oder eher zweitrangig, wer versorgt, Hauptsache, es werde versorgt. Das ist ein Punkt, wo ich meine, dass wir als überzeugte Freiberufler deutlich protestieren müssen.“ Eßer übertrug diese Äußerung „bewusst überzogen“ auf den politischen Bereich: Es sei gleichgültig, wer uns regiert, Hauptsache, wir werden regiert?
Eßer warnte vor der fortschreitenden Kommerzialisierung im Gesundheitswesen, die den Grundpfeiler der freiheitlichen Daseinsfürsorge bedrohe. Dieser Satz dürfe niemals wiederholt werden.

Doch wer hat ihn gesagt? Im Wortlaut des Plenarprotokolls lautet er: „Solange Versorgungssicherheit und Patientenzufriedenheit gegeben sind, sind mir die Eigentumsverhältnisse gleichgültig oder eher zweitrangig. Wichtig sind gute Versorgungssicherheit und Patientenschutz. Vielen Dank.“ (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Grigorios Aggelidis [FDP]). Gesagt hat ihn Erwin Rüddel, Mitglied des Deutschen Bundestags für die CDU. Dass Eßer hier, zwar ungenannt, seinen einzigen Gastredner mit den Konsequenzen seiner politischen Haltung konfrontieren muss, zeigt die Entfremdung von Teilen der Politik und den Interessen (der Zahn-)Ärztinnen und Ärzten zu Gunsten eines Gesundheitsmarkts.
Willkommen in der Wirklichkeit.